Kapitel 23

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Sicht von Chris...

Mein Büro in Bünde habe ich in den letzten Tagen wenig verlassen. Ich musste wieder aktiv anfangen zu arbeiten und daran verzweifeln, dass wir gerade nur übergangsweise ein Lied für unsere neue Illusion haben. Mit Anni schreibe ich den Tag über immer wieder, aber sie ist gerade viel bei ihren Proben, da im November die letzten ihre Termine anstehen. Wir schreiben, wenn wir Zeit dafür haben.

Auf meinem Handy habe ich gerade Spotify über meine Kopfhörer laufen. Da Andreas mir die letzten Male über meinen Computer meine Kopfhörer getrennt hat und dann hören konnte, was ich laufen habe, spiele ich die Musik jetzt immer über mein Handy ab. Währenddessen versuche ich ein paar Unterlagen zu vervollständigen, zumindest bis das Programm ein Update machen muss. Ich schaue daher auf den Homebildschirm und danach auf mein Handy, da gerade das neue Album angefangen hat. Es ist jetzt bereits das vierte Album, was ich höre. Darkness, Finding Peace, The Loneliest und gerade fängt das letzte Album an. Inner Demons. Seit dem Tag, wo ich Anni geschrieben hatte, dass ich eventuell doch zu ihren Konzert nach Düsseldorf kommen könnte, höre ich deren Musik. Neben den Alben haben sie nur drei einzelne Singles rausgebracht. Public Therapy, Screaming Silence und My Lover. Ich hänge so in deren Musik, dass sie im Büro, in meinem Auto und zu Hause läuft. Es gab wenige Bands, die mich komplett abgeholt haben und bei denen ich jedes einzelne Album gerne gehört habe und jede Single kenne. Aber Public Therapy gehört zu denen, die ich ganzheitlich höre und teils genial finde. Ich sage nicht, dass ich mich neben den Aufgaben auch mit der Historie der Band und der Mitglieder auseinandergesetzt habe, aber in den Pausen habe ich selbst auf meinen Kaffee verzichtet.

Marco Raves, Julian Riedel, Claas Noth und Anissa Sanders besuchten alle das Gymnasium in Lingen. Marco, Julian und Claas sind dabei zwei Jahre älter als Anissa und haben früh eine Schülerband gegründet. Als sie die 13. Klasse wiederholen müssen, fehlt ihnen der Bassist, der zum Studieren nach Köln gezogen ist. Marco und Anissa sind im selben Musikkurs in der Oberstufe und er sieht gleich, dass sie ein gutes theoretisches Wissen hat und findet heraus, dass sie seit vier Jahren Bass spielt. Er überredet sie, dass sie in die Band eintritt. Zuerst sind sie bei Schulveranstaltungen unter den Namen Kings and Princess aufgetreten. Nach dem Abitur organisierten sie selbst Auftritte in kleinen Bars oder Clubs. Eine erste Aufnahme schickten sie damals nach Berlin und so wurde James Koethe auf sie aufmerksam, der für eine große Plattenfirma arbeitet. Zwei Jahre nach dem Abitur zogen sie alle nach Berlin und spielten erste Konzerte. Durch den Umzug und andere vergangene Belastungen musste der Frontsänger Claas für eine Zeit von der Bühne fernbleiben und danach änderte sich die Musik thematisch, sodass sie sich nach seiner Rückkehr in Public Therapy umbenannten. Ihre Single unter dem gleichen Titel landete damals auf Platz eins der Charts und hielt sich eine lange Zeit da. Immer wieder stand die Band im Licht der Öffentlichkeit. Zumal wurde die Band immer hervorgehoben, da sie sich mit inneren Konflikten auseinandersetzen und das in Songs verarbeiten, aber seit Jahren landen die Musiker immer wieder durch verschiedene Skandale in der Medien.

Es gab auch noch viele kleine Eckdaten, aber das war der zentrale Ablauf, wie sich die Band gegründet hat. Und seit neun Jahren läuft es bei ihnen mehr oder weniger gut. Musikalisch mehr als gut, aber bei dem, was ich auch alles über die Männer lesen konnte, was ich auch oftmals gar nicht wissen wollte, ist für sie alle auch mehr als belastend. Andreas und ich halten aus guten Gründen unser Privatleben derartig privat. Die Frage ist, ob sie schuld daran sind, oder ob es äußere Umstände sind. Wie kommt man aber in die privaten Umfelder der Mitglieder, wenn sie diese Menschen nicht einladen oder reinlassen? Im Grunde ist mir das aber auch egal, da ich nur mit ihr etwas zu tun habe. Nur unsere Wege haben sich überschnitten und miteinander verbunden, wenn man das so sagen kann. Wir kennen uns nicht lang, nicht wirklich ausführlich, aber wir können ein paar Dinge vom anderen auch einfach auf Wikipedia lesen.

Mein Programm updatet sich noch immer und so öffne ich Safari, damit ich auf die Homepage von Public Therapy zugreifen kann. Ich scrolle im Tourplan bis November und finde dort deren Konzert in der Merkur Spiel-Arena in Düsseldorf. Vor zwei Jahren haben wir dort unsere zweite Stadion-Show aufgenommen und jetzt soll ich da für ein Konzert hinkommen. Ich muss bescheuert sein, dass ich das mache, aber ich packe eine Karte in den Warenkorb und werde dann von meinem Bruder unterbrochen. Er kommt ins Büro und hält in der Hand einen Umschlag. Ein kleines Packet.
Andreas: Das kam heute für dich an."
Ich schaue ihn leicht misstrauisch an, nehme den Umschlag aber entgegen. Die Schrift kommt mir bekannt vor, auch wenn ich sie nicht einordnen kann im ersten Moment. Danach öffne ich diesen aber und hole zwei Dinge raus. Ein kleiner Notizzettel und eine Backstagepass.

Wenn wir uns in Düsseldorf sehen, dann möchte ich aber auch, dass du nicht nur mich auf der Bühne sehen musst. Du bist immer willkommen Chris. Bis bald, Anni.

Auf der Vorderseite ist die Band mit ihrem aktuellen Bild zu Inner Demons abgebildet und auf der Rückseite steht mein Name und dass ich zu Anissa gehöre. Ich muss verlegen lächeln und lege den vor mir auf den Tisch, schaue danach zu Andreas hin.
Andreas: Hast du vor, sie auf Tour zu besuchen? Bei einen ihrer Konzerte?"
Es war klar, dass er sehen und merken konnte, was es ist, wofür es da ist und was da bedeuten wird. Dass ich sie besuchen will bei ihren Konzert.
Chris: Ja Andreas. Das hatten wir vor einiger Zeit mal so besprochen, da sie im November in Düsseldorf sind. Hast du was dagegen?"
Ich sehe bei meinem Bruder den Blick, den ich nicht sehen will. Dieser leicht belehrende und zum gleichen Teil auch bedrückte Blick, den ich bei ihm noch nie ausstehen konnte.
Andreas: Ich habe einfach nur etwas...Angst Chris."
Chris: Wovor hast du denn bitte Angst Andreas? Ich kann selbst entscheiden, was ich mit wem mache und ich will einfach nur auf ein Konzert gehen. Mache ich bei Rammstein doch auch ab und an mal, wenn es in unseren Zeitplan passt."
Andreas. Ja, aber ihre Band..."

Er spricht die Berichte, die Meinungen, die Skandale und das Licht, in dem die Band steht, nicht an, aber ich weiß, was er meint, dass er es sagen will.
Andreas: Ich gehe schon rüber. Komm nach, wenn du hier fertig bist. Mama kommt in einer Stunde etwa vorbei..."
Er nimmt beim Vorbeigehen nur seine Jacke vom Haken mit und lässt mich im Büro allein. Meine Musik läuft an mir vorbei, die Karte ist noch im Warenkorb und der Pass liegt auf meinem Schreibtisch...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now