𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟡𝟡

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»Hallo Frau Kopplin. Wie geht es Ihnen?« , fragte der Therapeut, als er den Raum betrat.

Isabelle saß auf einem bequemen Sessel und antwortete daraufhin nicht.

Dem Seelenarzt war es egal. Er wusste, dass sie nie darauf antwortete, und trotzdem fragte er sie jede Sitzung aufs Neue.

Er setzte sich auf seinen Stuhl, der bei weitem nicht so bequem wie der Sessel war und lächelte sie an, als er seinen Block an sich nahm, der neben ihm auf einem Schränkchen lag. »Margarethe hatte mir erzählt, dass Sie alle Partnersitzungen mit ihrem Mann abgesagt haben.«

Isabelle nickte. »Trifft zu.«

»Könnte ich den Grund erfahren?«

»Weil diese nichts nützen.«

»Aber ihre Einzelsitzungen bringen Ihnen etwas?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich kann nicht beides absagen.«

»Ich denke ja eher, das sie merken, das es Ihnen doch hilft. Vor einigen Monaten waren sie noch die kompletten Sitzungen still.«

»Bin ich auch jetzt noch teilweise.«

»Genau. Teilweise. Sie öffnen sich mehr und mehr, aber ich habe Geduld.« , sagte er und schrieb etwas auf. »Zwischen ihrem Mann und Ihnen läuft es gut?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Definieren Sie gut.«

»Er schläft seit drei Wochen permanent auf der Couch, um Ihnen Freiraum zu geben. Korrekt?«

»Korrekt.«

»Ist es auch das, was Sie wollen?« Isabelle überlegte und zuckte dann doch mit den Achseln. »Sie lieben ihren Mann ...«

»Natürlich.« , unterbrach sie ihn sofort, ohne zu wissen, was er genau sagen wollte.

»Aber Sie entziehen sich der körperlichen Nähe.«

Ihr war klar, dass Dag mit ihm in seiner Sitzung darüber gesprochen haben muss, was sie ein wenig ärgerte. »Das ist privat.« , sagte sie.

»Natürlich Frau Kopplin. Da haben Sie vollkommen Recht. Aber ich bin da, um Ihnen zu helfen. Der Mensch benötigt Nähe. Er ist ein ... Herdentier. Unter Freunden, mit der Familie ... dort lebt Geborgenheit. Es besteht das Bedürfnis nach Verbundenheit und laut den Geschichten ihres Mannes, waren Sie beide immer zutiefst verbunden. Von Beginn an.« Er registrierte sofort ihre Mimik, die wohl an etwas Positives zurückdachte, ehe sie ihre Gesichtszüge umgehend wieder änderte und er fortfuhr. »Mit Tod und Trauer sollte man nie alleine gelassen werden und Sie Frau Kopplin haben das Glück, einen Mann an ihrer Seite zu haben, der stets das Beste für Sie will. Genauso ihre Freunde. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Freunde einen tagtäglich zur Therapie begleiten. Glauben Sie mir.«

»Ich weiß.« , gab sie leise von sich.

»Haben Sie nochmal überlegt, eine Reise mit Ihrem Mann anzutreten? Nur Sie beide. Ohne Alltagsstress.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will das nicht.«

»Was genau wollen Sie nicht?«

Wieder überlegte Isabelle eine Zeitlang, ehe sie mit den Schultern zuckte. Der Arzt schrieb daraufhin ebenso ein wenig länger, während sie sich eines der Bilder ansah, was dort an einer Wand befestigt war. Es gefiel ihr schon von der ersten Sitzung an. Es zeigte einen Flur, allerdings beleuchtet durch die Fenster die seitlich gemalt wurden. Es war kein normaler Hausflur, eher ... wie ein verlassenes Gebäude, das vorher jedoch wunderschön gewesen sein muss. Jederzeit wenn sie drauf sah, konnte sie sich ein Bild davon machen, wie die Räume ausgesehen haben müssen. Ebenso verlassen, aber immer noch konnte man die Schönheit darin erkennen. Sie stellte sich vor, wie sie barfuß dadurch tippelte.

»Haben Sie gehört?« , vernahm sie unerwartet die Stimme des Arztes.

»Was?«

»Ich fragte, wovor Sie Angst haben?«

»Angst?«

»Frau Kopplin, ich mache diesen Beruf nicht erst seit gestern und ich kann Ihnen genau sagen, was in Ihnen vorgeht.« Er richtete seine Brille richtig. »Sie haben Angst. Große Angst sogar.«

»Aha.« , gab sie ein wenig desinteressiert von sich.

»Sie haben Angst davor glücklich zu sein.« Nun sah sie ihn an, als er weitersprach. »Sie haben das Gefühl, sie dürfen kein Glück in ihr Leben lassen. Nicht lachen, nicht wohlfühlen und deshalb bannen Sie alles in ihrem Leben, was sie das verspüren lassen könnte. Und dazu gehört auch ihr Mann. Hab ich Recht?«

Isabelle blickte zu Boden, dann auf das Bild. »Ich darf das nicht.« , antwortete sie leise.

»Glücklich sein?«

Sie nickte. »Ich kann das einfach nicht.«

»Wieso?«

»Weil ... weil ich dann eine schlechte Mutter wäre.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Frau Kopplin, Sie sind ein lebendes Wesen. Und auch wenn Ihnen etwas Schlimmes zugestoßen ist, haben Sie ein Anrecht auf Glück. Sie dürfen lachen. Sie dürfen die Nähe eines Menschen genießen. Sie dürfen so viel Glückshormone produzieren, wie nur möglich ... nichts davon, wertet Sie als schlechte Mutter ab.«

»Ich schaffe das nicht.« Ihre Stimme war fast schon flüsternd.

»Aber das werden Sie mit der Zeit. Und deshalb dürfen Sie sich nicht schlecht fühlen. Lassen Sie es zu.« Sie sah erneut auf das Bild. »Ich hab' eine kleine Aufgabe für sie.« , meinte er plötzlich.

»Die wäre?«

»Schreiben Sie einen Brief.«

»An wen?«

»An Rio.« , antwortete er. »Sie müssen den nicht auf Anhieb fertig bekommen. Sie können auch nur gelegentlich etwas hinzufügen. Schreiben Sie ihn. Bewahren Sie ihn auf und lesen Sie ihn das ein oder andere Mal.«

»Das bringt mir mein Kind nicht wieder.«

»Frau Kopplin, wie schlimm es sich jetzt auch anhört, aber nichts auf dieser Welt wird Ihnen ihren Sohn wiederbringen. Aber Sie müssen lernen, dies zu verarbeiten, umso mehr Sie es unterdrücken, umso schlimmer wird es werden.«

Wiederholt sah sie auf das Bild und stellte sich vor, wie sie mit Rio an der Hand durch die Räume wanderte. In ihren Gedanken war er ein bisschen älter. Eine Version, die sie nie kennenlernen würde.

»Und schauen Sie nach etwas in ihrem Leben, das Ihnen hilft ihren Alltag ein wenig ... bunter zu machen. Ein neues Hobby. Ein altes Hobby. Vielleicht wieder ihrer Tätigkeit in ihrem Beruf nachgehen, wenn Sie das gerne getan haben oder ... suchen Sie sich etwas komplett Neues. Machen Sie etwas Soziales. Helfen Sie meinetwegen Menschen. Aber leben Sie und vegetieren Sie nicht einfach nur vor sich her.«

Isabelle war sich im Klaren darüber, dass er irgendwie Recht hatte. Und dennoch wusste sie nicht, wie sie anderen helfen könnte, wenn für sie doch die bittere Realität bestand, in der ihr Sohn gestorben war und wo sie niemals wissen würde, wie sein Leben verlaufen wäre, insofern sie ihn gesund und munter auf die Welt gebracht hätte. 

Ich bin der falsche Mann für die richtige Frau (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt