46. Zwei Klingen

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Levi und ich kauften Blumen an einem Stand auf dem Marktplatz und gingen zu Gunthers Grab. Er war der Einzige unseres früheren Trupps, der hier in Mitras beerdigt lag. Sein Grab war klein und einfach gehalten. Doch die zahlreichen frischen Blumen vor seinem Stein zeigten, wie viele ihn vermissten. Ich plazierte den bunten Strauß auf dem Grabstein und befreite die Ruhestätte von angefallenem Laub. Levi beobachtete mich. Er schwieg und sah immer wieder dem Sonnenuntergang entgegen. Der Friedhof wurde von einem klaren, organen Licht umhüllt. Es war fast so, als würde sich das Himmelstor für die Geister der vergangenen Seelen öffnen und ihnen einlass gewähren.
"So Gunther, jetzt ist alles wieder sauber." sprach ich zu dem Toten. Ich strich über die Kante des Steins, so als wäre sie ein Teil meines Freundes. In mir breitete sich die Traurigkeit aus, doch ich versuchte sie zu verdrängen. Heute wollte ich nicht weinen. Heute wollte ich einfach nur einen Freund besuchen. "Nächstes Mal müssen wir zu Petra in Trost gehen, Levi. Ich muss ihr unbedingt Lilien bringen." rief ich aus und vertuschte meine Gefühle. Langsam ging ich zurück in Richtung Stadt. Viel länger wollte ich - nein - konnte ich nicht bleiben. Der Gefreite folgte mir und nickte kurz.
"In Ordnung. Ich denke, wir werden eh bald durch Trost kommen, um unsere nächste Mission durchzuführen." erklärte Levi. Unsere nächste Mission - soweit ich es einschätzen konnte, würden wir die äußere Mauer zurückerobern müssen. Es war vielleicht die bisher größte Herausforderung, der wir uns stellen mussten. Wer von uns allen würde diesmal nicht zurückkehren? Wen würde ich das nächste Mal besuchen kommen? Ich erschrack. Was, wenn es mich treffen würde? Unsicher blickte ich zu Levi. Würden sie mich ebenfalls hier beerdigen?
"Was?" fragte der Gefreite. Er sah mir meine Zweifel an, doch ich schüttelte den Kopf und behielt meine Gedanken für mich. Egal wo der Körper eines Menschen liegt - viel wichtiger ist doch, wohin seine Seele gehen darf. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, dass die Toten mit dem Wind über die Welt hinwegschweben - fast so wie die Gänse, die ihre jährliche Reise beschreiten. Dass sie all jene besuchen, die sie lieben und sich täglich an sie erinnern. Sie über die wachen, die sie nicht vergessen können. Doch heute fragte ich mich, ob meine Seele überhaupt diese Freiheit verdient hatte. Wahrscheinlich würde ich wie auch Erwin in der Hölle schmoren und im ewigen Feuer das Leid meiner Opfer erfahren. Plötzlich lag Levi seine Hand auf meine Schulter. Er sah noch immer in mein Gesicht und wartete ab, bis ich aus meinen Gedanken zurückgekehrt war.
"Ich habe übrigens mit Erwin gesprochen. Du sollst dir einen neuen Dolch kaufen. Der Schmied, der dir deinen Alten gemacht hat, lebt doch hier in Mitras, oder nicht?" warf er nun ein. 
"Ja, schon."
"Dann zeig mir den Weg! Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis wir zurück sein müssen."

Eine Glocke klingelte als wir die Tür der Schmiede öffneten. Ich wunderte mich. War sie das letzte Mal bereits da gewesen?
"Kann ich ihnen helfen?" fragte mich eine junge Frau. Ihr kurzes blondes Haar stand wild nach oben und betonte ihr freches Äußeres.
"Nun, eigentlich wollte ich mit dem Schmied sprechen." sagte ich und versuchte an ihr vorbeizuschauen.
"Ihr meint meinen Bruder, oder? Robert ist auf Reise gegangen. Er musste erstmal raus aus Mitras. Aber wir haben viele seiner hergestellten Waffen zum Verkauf hier und auch ich kann euch bei kleinen Ausbesserungen oder Verfeinerungen helfen." Ich sah zu Levi. Er ging langsam durch den Laden und prüfte verschiedene Schwerter und Dolche.
"Ich denke, wir werden fündig." sagte er zu der Frau. Ich nickte und ging zu ihm.
"Hast du schon etwas entdeckt?" Levi stand vor einem Paar Dolche mit leicht geschwungenen Klingen. Ihre Schneiden waren fein verarbeitet und schienen hierdurch gradliniger als mein früherer Begleiter gefertigt worden zu sein. Am Ende der geriffelten Griffe konnte ich jeweils eine Art Ring erkennen. An ihn könnte man Bänder binden oder ihn zum Aufhängen verwenden. Praktisch war dies allemal. Levi nahm einen der Dolche und hielt mir seine Hand hin. Ich lag meine Rechte hinein, doch er blickte mich nur genervt an.
"Was denkst du, warum ich grade diesen gewählt habe?" Vorsichtig nahm er meine verletzte Hand und drückte den Dolch in meine Handfläche. "Die Riffelung müsste dir genug halt geben. Wenn du übst, kannst du vielleicht sogar den Ring als Hilfe nutzen." Mich überkam ein Unbehagen. Seine Argumente waren sinnig. Doch meine Hand so in seiner zu sehen, ließ in mir ein Gefühl von Scharm aufkommen.
"Es gibt keinen Grund, sich für eine Verletzung zu schämen, -dN-. Du solltest dich erst dann schämen, wenn du dich dadurch aufhalten lässt." Ich schloss meine kaum vorhandenen Finger um den Griff. Selbst durch den Verband konnten meine Stummel die geriffelte Oberfläche spüren. Vielleicht würde ich so trotz des Verlustes meiner Finger eine gewisse Orientierung auf meiner Waffe haben, um meine Greifweise bei Bedarf anpassen zu können. Ein Versuch war es also wert.
"Können wir dann beide nehmen?" fragte ich und sah zu dem zweiten Dolch, welcher noch an der Wandhalterung hing. Levi blickte mich skeptisch an.
"Willst du jetzt mit zwei Klingen vorgehen?" Er nahm die Waffe und sah sie sich an. Die Dolche waren identisch verarbeitet. Keiner der Klingen schien von schlechterer Qualität. Sie würden durch Fleisch und Knochen gleiten als seien sie Fische im Wasser. Ich lächelte und nahm ihm den zweiten Dolch ab.
"Einen Moment." sagte ich grinsend und lief zu der jungen Frau, die in einer Zeitung blätterte. "Wenn ich es nicht tue, dann bereue ich es bestimmt irgendwann." dachte ich und versuchte meine Zweifel zu ignorieren. "Können Sie noch eine Kleinigkeit anpassen?" Die Frau hörte sich meinen Wunsch lächelnd an. Ein "Wie niedlich" konnte sie sich wohl nicht verkneifen und ließ mich dadurch erröten, obwohl ich diese Idee doch von ihrem Bruder abgeschaut hatte. Levi stand schweigend da und sah der Frau dabei zu, wie sie zuerst das Schriftzeichen meines Namen und dann seines in jeweils einen der Dolche gravierte. Dann malte ich ihr auf ein Blatt Papier unsere Initialien in meiner Schrift auf, sodass sie sie ebenfalls auf die Klingen verewigen konnte. Nun wirkten die Waffen schon fast wie zeremonielle Relikte. Vorsichtig verpackte Roberts Schwester die Klingen in Tüchern und übergab sie mir grinsend. Levi lag die nötigen Goldstücke auf den Tisch, wärend ich hastig den Laden verließ. Irgendwie war mir meine Idee nun doch fast schon peinlich, obwohl ich Gunther für dieses liebevolle Geschenk immer etwas beneidet hatte. Ich seufzte. Er konnte es damals noch nicht mal in seinen Händen halten. Ich blickte auf die beiden Päckchen. Meine Wangen waren bereits jetzt glühend heiß und mein Herz klopfte mir förmlich aus der Brust. Es waren keine Ringe - kein mit seltenen Steinen besetzter Schmuck und doch war mein Gedanke dahinter mehr als deutlich. Für mich waren es eben nicht nur einfache Dolche, sondern zwei Waffen, die durch die Gefahren der Welt schwangen, um irgendwann gemeinsam abgelegt zu werden. Ich lächelte. Waren diese Klingen nicht das, was uns am besten beschrieb?
"Und was hast du nun vor?" fragte Levi, der plötzlich vor mir stand. Ich schrack auf.
"Ich habe dich gar nicht gehört."
"Kein Wunder bei deinem gedankenvollen Blick." Levi steckte seine Hände in den Mantel und sah skeptisch zu mir herüber. Ich rieb nervös die beiden Päckchen aneinander und starrte auf sie. Meine Stimme verzagte. Ich bekam keinen Ton raus.
"Du bist doch sonst nicht so zögerlich." sagte er und lächelte.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now