83. Gedanken aus anderen Zeiten

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Trost – bereits am Horizont sah ich der Stadt ihre Trauer an. Sie lag im tiefen Schatten ihrer eigenen Mauer – fast schon einsam aussehend - und wirkte auf mich so einladend wie eine Folterkammer. Ich seufzte schwerfällig als Levi und ich durch das Tor ritten. Noch immer erahnte ich den Geruch von Verwestem, auch wenn die Toten schon längst in die anderen Städte verteilt wurden. Es war, als hätte sich dieser süßliche Duft in den Hauswänden festgesetzt und würde sich dadurch immer wieder auf die Straßen zurückdrängen, um die Menschen an das geschehene Leid zu erinnern. Wie lange würde es wohl dauern, bis dieser Duft verflogen war? Würden die Bewohner dieser Stadt dann die Opfer unseres Trupps vergessen?

Ich blickte zu Levi, der von seiner Stute abstieg und sie daraufhin in den Stall brachte. Wahrscheinlich roch er diesen Duft genauso wie ich. Vielleicht stellte er sich sogar die gleichen Fragen. Ich biss meine Zähne zusammen. Meine Sehnsucht, diese Stadt bald hinter mir zu lassen, wuchs. Der Wunsch, die Grenzen dieser Insel zu überqueren, drängte sich in mir auf. Ich hatte Fernweh oder Heimweh – was genau es war, konnte ich nicht sagen. Doch ich spürte es in meinem Herzen – dieses Gefühl den Problemen entfliehen zu wollen – auch wenn ich wusste, dass ich es Levi und Hanji niemals antun könnte.
„-dN-! Na, wie war euer Urlaub zu zweit?" rief die Braunhaarige aus, als sie mich entdeckt hatte. Ich sprang von Wolke ab und lächelte.
„Seit wann gibt es beim Aufklärungstrupp Urlaub?" warf Levi ein, während er sich zu uns gesellte. Er verschränkte seine Arme.
„Seitdem unser Trupp auf werdende Eltern aufpassen muss, denke ich..." Hanji zwinkerte. „Übrigens, Historia und General Zackley sind bereits in der Stadt. Ich habe mit ihm die frühzeitige Entlassung von Mikasa und Eren besprochen. Wir können sie gleich abholen und dann gemeinsam zu der Besprechung des Militärs gehen."
„Gut, wie ist ansonsten der Stand?" fragte Levi.
„Es gab keine weiteren Vorfälle. Ich habe organisiert, dass sich die Militärpolizei um die Kontaktierung der Familien der Opfer kümmert. Auch mit Pixies habe ich bereits gesprochen. Er unterstützt uns soweit es geht."
„Gut. -dN- bring Wolke in den Stall! Dann können wir Hanji ins Verließ begleiten!" wandte sich Levi an mich. Ich nickte und zog das Pferd in seine Box. Erfreut nagte sie an ihrem Heu.
„Wie geht es dir und deiner Übelkeit?" fragte Hanji als ich zurückkam und ihr und Levi folgte.
„Es geht... Hin und wieder habe ich es noch, aber ich glaube, es wird weniger."
„Das klingt doch gut. Nach der Audienz kehren wir nach Mitras zurück. Dort brauche ich bei einer Sache deine Hilfe!" erklärte die Kommandantin.
„Bei was?" Die Braunhaarige lächelte mich an.
„Ich möchte, dass du mir eine Karte zeichnest. Geht das?"
„Von dieser Insel?"
„Nein, von allem. Ich will sehen, wo unsere Feinde herkommen und wo wir liegen. Ach, das ist so spannend!" Hanjis Stimme bebte.
„Okay. Ich brauche ein sehr großes Blatt Papier oder mehrere Kleine. Dann kann ich es euch ungefähr aufzeichnen."
„Oh, du bist super." Die Frau griff mich am Ärmel und zog mich etwas an sich heran.
„Könntest du mal mit dem Schwärmen aufhören!" mischte sich Levi plötzlich ein. „Wir können das später klären. Jetzt haben wir wichtigeres zu tun!"

Gemeinsam mit Armin gingen Hanji, Levi und ich ins Verließ, um Mikasa und Eren für das Gespräch mit Historia und den anderen Staatsmännern abzuholen. Unruhig stieg ich die Treppe hinunter und lauschte. Der Titanenwandler schien in einem Gespräch vertieft zu sein, obwohl man niemanden außer ihn sprechen hörte. Levi, Hanji und ich sahen uns etwas unsicher an, doch wir schritten zu seiner Zelle und blickten vorsichtig um die Ecke.
„Was tust du da?" fragte Hanji und ahmte dabei eine Handbewegung von Eren nach. Sie griff sich am Handgelenk und sagte: „Der Attackierende Titan. Das war doch die Geste, oder?"
„Lass ihn, Hanji. Der Junge ist 15. Da macht jeder so eine Phase durch." meinte Levi und schloss dabei die Zelle auf. Ich blickte zu unserer Kommandantin. Obwohl sie oft so fröhlich und gelassen war, schien sie in diesem Moment genervt. Vorsichtig lag ich meine Hand auf ihre Schulter.
„Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Eren ein Titanenwandler ist. Vielleicht stimmt es ja doch und er sieht Dinge aus der Vergangenheit. Dinge, die andere vor ihm gesehen haben. Oder Eren?" Der junge Mann sah überrascht zu mir. „Ich hatte dich das doch schon einmal gefragt..." warf ich ein, wobei ich Levi dabei beobachtete, wie er die Zelle betrat.
„Komm raus!" befahl er, doch Eren lief bereits an ihm vorbei und ergriff mich.
„Weißt du, warum es plötzlich da ist? Warum sehe ich das alles?" Er schüttelte mich. Ich blickte ihn erschrocken an und sah sie – die Unsicherheit, die er in sich trug. Sie hatte ihn in ihren Fängen, hatte ihn gepackt und hielt ihn fest. Er würde Zeit brauchen, bis er sie hinter sich lassen konnte. Zeit um seine Gedanken zu sortieren und festzustellen, was ihm sein Wissen ermöglichte. Zeit und Hilfe.
„Eren, lass sie los!" schimpfte der Gefreite. Wütend packte er den jungen Mann an seinem Arm. Seine Augen zeigten, wie ernst er es meinte. Levi war nicht in Stimmung für Spielchen. Genauso wie Hanji war seine Geduld heute wenig ausgeprägt. Ich seufzte. Eren blickte geschockt zu seinem Truppenführer und hielt inne. Langsam löste er seine Hände aus dem Stoff meines Hemdes und blickte zum Boden.
„Entschuldigt, Truppenführerin -dN-..." sagte er, doch ich schüttelte den Kopf.
„-dN- reicht, Eren. Und schon gut. Ich kann dir leider auch nicht viel mehr sagen, als die paar Dinge, die ich mal aufgeschnappt habe." Er nickte und verließ seine Zelle. Ich sah zu Levi, dessen Blick immer noch auf mir lag. „Es ist alles in Ordnung..." meinte ich nur.
„Gut, ich werde mit den Grünschnäbeln zu einer Audienz bei der Königin gehen und nachher zu euch stoßen, bevor die Verhandlungen des Militärs starten." erklärte er. Unsicher nickte ich ihm zu und stellte mich zu Hanji. Gemeinsam mit ihr würde ich die nächsten Schritte besprechen, um für die Unterredung vorbereitet zu sein.

„Eren ist wohl vollkommen durchgedreht..." äußerte Hanji, als wir gemeinsam einen Tee tranken. Kamile mit einem Hauch Apfel – ein fruchtiges und dennoch beruhigendes Gemisch. Es war genau das, was die Kommandantin grade nötig hatte. „Wir sind nur noch ein paar Leute. Wenn jetzt noch einige durchdrehen, weiß ich nicht, was aus dem Aufklärungstrupp noch werden soll..." beschwerte sich die Braunhaarige. Sie nippte vorsichtig an ihrer Tasse.
„Dann sollten wir Eren nicht mit in das Gespräch nehmen! Er braucht Zeit, seine Gedanken zu sortieren. Vielleicht wäre auch etwas Ruhe ganz gut für ihn."
Hanji nickte.
„Gut, lassen wir ihn hier im Gasthaus..." stöhnte sie und nahm einen weiteren Schluck. „Ich möchte übrigens, dass du dich offen gegenüber allen äußerst. Dein Wissen kann uns ab jetzt eine große Hilfe sein."
„Ich weiß, Hanji..."
„Gut, dann lass uns gehen! Wir sollten nicht zu spät kommen." Hanji kippte den letzten Schluck ihres Tees runter und stöhnte kurz auf. Dann stand sie auf und grinste mich an. „Das wird sicherlich eine interessante Veranstaltung."

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now