107. Die Gefangene Finger

230 10 0
                                    

„Hast du alles zusammen?" fragte Levi und beobachtete mich dabei, wie ich Wolke am nächsten Morgen für unseren Ritt nach Stohess vorbereitete. Ich blickte zu ihm herüber und lächelte.
„Ich denke schon. Ich brauche ja nicht viel."
„Iss wenigsten etwas, wenn du dort ankommst..." schimpfte der Gefreite schon fast. Er lehnte sich an die Stalltür und verschränkte die Arme. Ich wusste, dass er mich am liebsten begleiten wollte, doch er wurde hier am Hafen gebraucht, um unsere Kommandantin zu unterstützen.
„Werde ich schon."
Meine Augen fokussierten ihn, nur um seinen Anblick in mein Hirn zu brennen. Es war mein Herz, welches mich dazu aufforderte, denn immerhin musste ich ihn hinter mir lassen – gerade in dem Moment, in welchem er mir als meine Stütze diente. Ich seufzte innerlich. Diesen Druck, den ich seit gestern verspürte, konnte ich ertragen, doch nicht ignorieren.

Ich führte mein Pferd aus dem Stall heraus und griff nach diesem Mann, der mich noch immer nicht aus seinen Augen ließ. Dieser Brief hatte nicht nur mich zu einer klammernden Frau gemacht. Auch er hatte mehr Sehnsucht als sonst. Auch er wollte mich bei sich wissen, obwohl dies nichts an der Situation änderte.

„Redest du mit Hanji über die Reise in meine Heimat?" fragte ich und küsste ihn, noch bevor er mir antworten konnte. Es war mehr als nur ein Abschiedskuss. Wir drückten uns aneinander und genossen diesen Moment, so als wäre er unglaublich kostbar. Ich stöhnte in ihn hinein, um einen Hauch von mir zurückzulassen. Ein Gedanke, der sich in ihm festsetzen sollte, damit ich mir sicher sein konnte, dass er an mich dachte.
„Wir besprechen es, wenn du wieder zurück bist..." meinte er nur, nachdem er seine Lippen von meinen gelöst hatte.
Noch immer war mein Gesicht seinem so nah. Unsere Nasen berührten einander. Seine Hände griffen nach meinem Fleisch. Es tat ein wenig weh, so wie dieser Moment schmerzte, sich aus seinen Fängen zu befreien, um zu gehen.

„In Ordnung. Pass auf Kuchel auf!"" sagte ich noch und stieg auf mein Pferd auf. Wolke wieherte erfreut, als sie mit vollem Elan losgaloppierte. Ich grinste, während ich den Wind in meinem Haar spürte und zurücksah, um Levi noch immer dort stehend zu entdecken.
„Er blickt mir nach..." dachte ich und erkannte, wie sehr ich ihn bereits jetzt vermisste, obwohl ich wusste, dass wir uns bereits in der Nacht wiedersehen würden.
„Oh Mann..." flüsterte ich mir selbst zu.
Sobald es um ihn ging, fehlte es mir noch immer an Rationalität. Onyankopon hatte Recht mit seinem Vergleich: Ich war wie ein kleines Mädchen – aufblickend, klammernd und manchmal geistig ein wenig zurückgesetzt. Meine Lippen pressten sich zusammen. Doch gleichzeitig schritten wir Seite an Seite durch diese schwere Zeit und versuchten ein Land – nein, ein ganzes Volk – voranzutreiben.

Vielleicht war er dieser Ausgleich, den ich brauchte, um diese Last zu ertragen. Vielleicht war unsere Liebe meine Ablenkung von all dem Leid, welches mich zu zerreißen versuchte. Ich schluckte scherfällig und krallte mich an die Zügel fest. Die Erkenntnis, mich an ihn gewöhnt zu haben und mittlerweile ohne ihn mehr als nur Leer zu spüren, bedrückte mich. Auch wenn ich mit ihm und Kuchel glücklich war, barg dies auch die Angst, sie verlieren zu können. Eine Angst, die von Tag zu Tag in mir anwuchs.

„Ach Wolke, was wird noch alles passieren?" gab ich meiner Stute zu bedenken, obwohl es sie herzlich wenig interessierte und spornte sie dabei an. Mein nächstes Ziel war Stohess. Der Ort, an dem Kenny auf mich wartete.


Meine Schritte hallten durch den Flur des Gefängnisses, als ein lautes Rufen mich auf meinen Weg zu Kennys Zelle unterbrach.
„Teamführerin -dNN-! Gut, dass sie hier sind. Wir haben ein Problem." meinte ein aufgebrachter Soldat. Ich sah ihn etwas zögernd an. Sein Blick wich mir aus. Dieser Mann wirkte nervös.
„Was ist los?" fragte ich, als er mir ein Handzeichen gab, um ihm zu folgen. Wir schritten durch das Gefängnis.
„Hey Schnecke, ich dachte, du wolltest mich abholen!" wurde mir noch zugerufen, als ich an der Zelle meines Teammitgliedes vorbeilief.
„So ein Scheißkerl..." fluchte ich, doch über meinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus. Kenny stand anscheint seit einiger Zeit an seiner Zelltür und wartete darauf abgeholt zu werden, so als sei er ein braves Hündchen. Anscheint hatte ihn das Gefängnisleben dazu gebracht, seine ablehnende Einstellung zu überdenken. Zumindest hoffte ich dies, denn ich brauchte ihn als treues Mitglied in meinem Team und nicht als Problemfall.

„Die Gefangene Finger weigert sich seit zwei Tagen zu essen... Wir haben schon mehreres versucht, aber es ist zwecklos. Wir benötigen eine Entscheidung, was wir mit ihr machen sollen..." erklärte mir der Soldat, der nun an einer Zelle stehen blieb. Ich blickte hinein und entdeckte die Gefangene sowie eine Militärpolizistin, welche auf einem Hocker saß und ein Schwert hielt. Sie war wohl für die Abtrennung der Gliedmaßen zuständig.

Die Zelltür öffnete sich. Piek Finger sah mich emotionslos an. Sie wirkte niedergeschlagen und schwach. Ihr Verhalten schien bereits an ihr zu zerren.
„Guten Mittag, Piek... Ich habe von den Problemen gehört, die du machst. Möchtest du dich damit mitteilen?" stachelte ich.
Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf.
„Es hat keinen Sinn mehr... Mein Tod dient Marley mehr als mein Leben..." seufzte die Soldatin.
„Ist das so? Ich dachte, wenn ein Titanenwandler stirbt, bekommt eine beliebige Person des Volkes von Ümir diese Fähigkeit... Es kann also genauso gut auf einen Menschen auf Paradies übergehen."

Piek nickte kurz.
„Ja, oder auf eine Person aus Marley... Egal wie es ausgeht. Die Chance, dass es jemand in Marley erbt ist immer noch höher als meine Chance hier nochmal lebend rauszukommen..."
Ich musterte diese Frau, die anscheint ihren Willen zum Leben verloren hatte und überlegte kurz. Mit einem Ruck zog ich meinen Dolch. Die Schriftzeichen schimmerten im einfallenden Licht und erinnerten mich an den Moment, als Levi mein Handgelenk gegriffen hatte, um mich daran zu hindern, diese Frau zu zerfetzen. Sein Blick war damals so leer und sein Geist hasserfüllt gewesen, doch er hatte die Fassung behalten - er und nicht ich.
„Wenn das dein Wunsch ist, dann kann ich auch da weitermachen, wo mich der Hauptgefreite damals aufgehalten hatte." drohte ich.
„Monster – wahrhaftig. Hier auf Paradies werden nur Monster geboren!" fluchte sie, doch ich lächelte nur.
„Ach ja?, Ich bin gar nicht von hier.... Piek. Ich bin vom Festland, so wie du. Dass du mich als Monster bezeichnest, zeigt doch nur, dass sie von überall stammen können. Oder meinst du, dass die Menschen in Marley besser sind? Diese Menschen, die euer Volk als Sklaven für ihren Krieg benutzen. Diese Menschen, die deine Verwanden in willenlose Geschöpfe verwandeln, um andere Ländereien für sich zu gewinnen. Sind das keine Monster?" schrie ich. Meine Stimme hallte durch die Gänge.

Es war mein Herzklopften, welches meine Brust zum Beben brachte. Meine Wut sprang der Gefangenen entgegen. Ich kochte beinah und spürte, wie meine Wangen glühten. Wie konnte sie nur so naiv sein? Sie, die keineswegs eine dumme Frau war und auch generell nicht besonders brutal wirkte. Irgendwo tief in ihr musste doch ein Hauch der Erkenntnis liegen, dass die Menschen dieser Insel weder bessere noch schlechtere Meschen waren, als jene, die auf dem Festland lebten.
Mein Blick wartete auf ein Zeichen – vielleicht sogar auf den Moment des Erkennens, doch Finger sah nur zu Boden und ignorierte meine Worte.
„Dann verhungere halt!" schnaufte ich und verließ die Zelle. „Sie soll essen, wann sie will. Stirbt sie, dann vergrabt sie wie jeden Anderen auch und erstattet der Kommandantin Hanjin Bericht!" erklärte ich und wandte mich daraufhin ab. Es war das letzte Mal, dass ich Piek Finger sah – diese Frau, die mehrmals meinen Hass geschluckt hatte.

Vielleicht waren wir Beide gar nicht so verschieden. Vielleicht wäre sie einer dieser Menschen gewesen, die ich gemocht hätte, wenn ich sie als Freund und nicht als Feind kennengelernt hätte. Doch wir waren zwei Frauen, die auf verschiedenen Seiten standen. Zwei Frauen, deren Schicksale aufeinandertrafen, um einander auszulöschen und damit unsere Rolle als Soldatinnen zu erfüllen. Ich seufzte. Am Ende waren wir doch alle Monster, die keine Rücksicht nahmen, sobald es um unsere Ziele ging. Wir töteten einander und verabscheuten den Feind, nur um es nicht hinterfragen zu müssen. Dies war unser Weg, der niemals zu enden schien, und die Art und Weise, wie wir ihn beschritten.
„Was wird das aus mir machen?" fragte ich mich plötzlich und blickte zu Kennys Zelle. Auch er war diesen Weg bereits über Jahre gegangen. Auch ihn hatte es verändert und dennoch – irgendwo tief in ihm war ein Funke Menschlichkeit geblieben. Ein Funke, den auch ich in mir erhalten wollte, um mich selbst ertragen zu können. 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt