68. Die neue Rolle eines jungen Mannes

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Seit fast nun zwei Stunden saß ich gemeinsam mit der Wandlerin sowie Sasha und Armin auf der Mauer und starrte über die Ebene hinweg. Immer wieder kontrollierte ich den Zustand der verletzten Sasha, die leicht fieberte und mit ihren Wunden zu kämpfen hatte. Sie würde es schaffen, dem war ich mir sicher. Doch trotzdem sorgte ich mich um die junge Frau und gab ihr immer wieder Wasser, um ein Austrocknen zu verhindern.
„Was ist hier los?" hörte ich plötzlich. Armin war aufgewacht. Er setzte sich auf und sah erschrocken zu seiner Freundin.
„Es wird alles gut, Armin." meinte ich nur und lächelte. Eilig kramte ich eine Leuchtrakete hervor und schoss sie. Es war das abgemachte Zeichen, falls der junge Mann erwacht. Das Zeichen, um den Trupp zu versammeln und die Ereignisse zu besprechen.
Eren war der Erste, der zu uns stieß. Er rannte auf seinen besten Freund zu und umarmte diesen wild.
„Schön, dass du zurück bist." rief er aus und überforderte damit den blonden Jugendlichen, der kaum etwas verstand. Ich blickte mich um. Auch Levi landete nun bei uns. Er verschränkte seine Arme und hielt Abstand. Wahrscheinlich war er sich selbst noch nicht darüber im Klaren, welche Auswirkung seine heute getroffene Entscheidung haben würde. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte.
„Eren, erzähle ihm alles!" befahl er und so berichtete Eren über den Kampf gegen den Kolossalen Titan, über die Opferung unserer gesamten Einheit mit Ausnahme von Levi und mir und über den Streit um das Serum und die Entscheidung, die am Ende auf Armin gefallen war. Der junge Mann war außer sich. Seine Augen zeigten Zweifel.
„Wieso habt ihr mich gewählt?" schrie er beinah auf. Auch Hanji und Mikasa sowie Connie und Jean waren nun bei uns. Wir alle sahen uns unsicher um. Eine wirkliche Antwort auf diese Frage gab es nicht. Wir schwiegen.
Plötzlich überkam Armin ein Würgen. Erst jetzt schien ihm bewusst geworden zu sein, dass er seinen früheren Kameraden Berthold gefressen hatte. Eilig packte er eine Flasche Wasser und trank hastig. Er versuchte die Übelkeit und damit die Gedanken daran zu ertränken.
„Na, wunderbar...noch einer, der uns vor die Füße kotzt." schimpfte Levi. Sein Blick wanderte kurz zu mir. Beschämt sah ich weg und hörte sein Seufzen. Auf seinen Schultern lag eine enorme Last. Ich konnte sie förmlich sehen – diese Zweifel, die ihn plagten. Sie verfolgten ihn und hielten ihn fest. Wie lange würde er brauchen, um sie hinter sich zu lassen?
„Letztendlich war ich es, der dich gewählt hat. Oder anders... ich habe auf Grund von persönlichen Gefühlen entschieden, dass Erwin sterben soll." warf Levi nun ein.
„Das verstehe ich nicht... Wie kann man den Kommandanten sterben lassen? Wie sollen wir ohne den Kommandanten weitermachen?" meinte Armin nun. Er argumentierte gegen sein eigenes Leben. Ich sah überrascht zu ihm. Auch dieser junge Mann war ein Stratege. Auch er erkannte die Nachteile seines Überlebens, doch gleichzeitig wollte er seine Stärken nicht einsehen. Aufstöhnend stand ich auf und ging zu diesen Jungen, der sein eignes Können vergessen hatte. Ich hockte mich neben ihm und lag meine Hand auf seine Schulter.
„Armin, du musst auch die Vorteile deines Überlebens erkennen! Auch du hast einzigartige Fähigkeiten, die dich besonders wertvoll machen. Ich glaube, dass sie uns am Ende dort hinter der Mauer mehr weiterhelfen werden, als Erwin das jemals gekonnt hätte." erklärte ich und blickte dabei tief in seine blauen Augen.
„Ich war auch dafür, die Spritze Erwin zu geben. Aber Erwin hat die Spritze nun mal Levi anvertraut und Levi hat dich gewählt. Also habe ich mich gefügt. Und damit sind Erwins Vermächtnis und die Titanenkräfte auf dich übergegangen. Das ist jetzt deine Rolle, egal was dir andere sagen. Ich erwarte, dass du sie für unser Volk erfüllst, Armin." fügte Hanji in einem scharfen Ton hinzu. Armin nickte. Er sah mich traurig an, so als verlange er nach mehr Trost. Doch was sollte ich sagen? Ich konnte ihr nicht widersprechen. Dieser junge Mann musste nun seine Rolle einnehmen. Er musste uns unterstützen und wahrscheinlich jeden Tag aufs Neue beweisen, dass er die richtige Wahl gewesen war. Seine Situation war zu bemitleiden und trotzdem war sie besser als der Tod.
Levi ging ein Stückchen auf die im Kreis sitzende Gruppe zu und erklärte:
„Nur dass du das klar siehst. Du kannst Erwin niemals ersetzen. Aber Fakt ist, dass du jetzt Kräfte besitzt, die wir nicht haben. Also, enttäusche uns nicht. Mich nicht und die Beiden auch nicht." meinte Levi, während er behutsam nach Erens und Mikasas Köpfen griff. Die Jugendlichen sahen verwundert zu ihm auf. „Niemanden... Auch dich selbst nicht. Lass uns das nicht bereuen. Das ist jetzt deine Mission." Ich lächelte.
„Und mach dir keinen Druck! Ich bin mir sicher, dass du genau die Rolle einnehmen kannst, die wir jetzt benötigen werden. Wir brauchen jetzt keinen Erwin, wir brauchen einen Armin." fügte ich hinzu.
„Habt ihr euch für Armin ausgesprochen?" fragte Eren mich plötzlich. Ich sah überrascht zu ihm.
„Ist das jetzt wichtig, Eren?" stellte Levi als Gegenfrage. Er beugte sich leicht über den braunhaarigen Jugendlichen und blickte ihn eindringlich an. Doch dann unterbrach Hanji das weitere Gespräch und kündigte an:
„Ich werde die Nachfolge als Kommandant des Aufklärungstrupps antreten. Daher lasst uns alle unser Bestes geben. -dN-, ich zähle auch auf dich. Du musst unser Auge nach draußen sein. Auch wenn du jetzt ein Kind erwartest, musst du uns dorthin führen!" Sie zeigte zum Horizont. Ich nickte.
„Mach dir keine Sorge Hanji. Nichts wird mich aufhalten, euch zu unterstützen."
Überrascht sahen mich die Jugendlichen an.
„Was?" sagte Armin leise, „Ihr seid schwanger?"
„Das steht alles noch gar nicht fest... Also freut euch nicht zu früh darauf." Sagte ich und hörte dabei, wie Hanji lachte.
„Vor allem, werdet ihr noch überraschter sein, wenn ihr erfahrt, wer der Vater ist." Unsere neue Kommandantin grinste frech zu mir herüber. Errötet setzte ich mich neben Pieck, die immer noch mit abgetrennten Gliedern herumlag. Die Wandlerin starrte mich ebenfalls verwundert an, doch wie alle anderen traute auch sie sich nicht zu fragen.
„Nun gut, Eren, Mikasa, Levi und ich werden nun zu dem Keller gehen. Die Anderen bleiben hier und überwachen unsere Gefangene sowie die Umgebung!"
„Jawohl." bestätigte ich gemeinsam mit Jean und Connie.
Wie von Hanji befohlen, machten sich die Vier auf den Weg zu Erens früherem Zuhause. Unruhig sah ich ihnen nach. Was sie wohl finden würden? Wie viele bisher unbekannte Informationen würde es offenlegen?
„Hoffentlich hat es sich dafür gelohnt..." flüsterte ich und sah zurück zum Schlachtfeld. „Ähm, Truppenführerin -dN-...." sagte Armin nun. Er blickte mich unsicher an. Seine Wangen waren leicht gerötet.
„-dN- reicht Armin. Meinen Trupp gibt es nicht mehr..." korrigierte ich ihn. Der junge Mann nickte traurig.
„Ähm, darf ich fragen, ob der Gefreite Levi der Vater eures Kindes ist?" Ich blickte Armin überrascht an. Sicherlich, er war ein intelligenter, junger Mann, doch mit solch einer schnellen Erkenntnis hatte ich nicht gerechnet.
„Armin, bist du verrückt?" warf Jean ein. Er lachte laut auf. Meine Wangen begannen zu glühen. Was sollte ich jetzt noch sagen? Erfahren würden sie es so oder so, doch hatte ich das Recht, es Levis Trupp zu sagen? War er nicht derjenige, der dies nun tun musste? Ich schluckte schwerfällig. Eine Verneinung wäre jedoch genauso unpassend.
„Armin hat Recht....." sagte ich einfach und blickte auf den Boden. Ich dachte an unser Versprechen. Nach dieser Mission, hieß es. Unsicher hoffte ich darauf, dass Levi mir diesen Vorzug nicht übelnahm. Connie sah mich erschrocken an und Jean konnte sich noch nicht einmal ein „Was?" verdrücken. Der Einzige, der kaum überrascht schien, war Armin. Er lächelte mich an.
„Man merkt es euch an, wenn ihr miteinander redet..." meinte er.
„Aber wie kann man denn bitte...?" Jean war immer noch außer sich. Wie immer sprach er bevor er nachdachte. Genervt fasste ich mir an die Stirn.
„Jean, ich als momentan Ranghöchste untersage noch eine solch dumme Äußerung! Sonst denke ich mir eine sehr unangenehme Strafe für dich aus!" schimpfte ich. Der junge Mann biss seine Zähne zusammen und schwieg. Eine Stille kehrte plötzlich zwischen uns ein. Sashas Atem – er wurde ruhiger. Sie schien langsam in den Tiefschlaf zu gleiten, welchen sie so dringend benötigte. Auch ich lag meinen Kopf auf meine Knie und schloss kurz die Augen. Der Wind rauschte durch mein Haar. Er kam aus Süden. Er kam vom Meer. Ich schnupperte. War da ein Hauch salzige Luft, die ich riechen konnte? Ein Hauch dieser Luft, die man am Strand tief in sich einsog, um dieses unglaubliche Wohlgefühl zu erhalten? Dieses Gefühl, was einen die Arme ausbreiten und den Kopf anheben ließ. Das Gefühl von Freiheit.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now