140. Ein Neuanfang

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Es war ein sonniger Tag wie jeder andere. Das Licht fiel in den kleinen Laden an der Ecke der Hafenstraße ein und betonte die herumwirbelnden Staubkörnchen. Sie tanzten förmlich von einem Ort zum anderen, so als wollten sie den schwarzhaarigen Ladenbesitzer dazu zwingen, sie endlich anzusehen. Doch er seufzte nur kurz, während er die letzte Schraube des Wandregals festzog.

„Ah,Levi. Du bist ja schon richtig weit gekommen!" rief plötzlich eine ihm bekannte Stimme. Schrill, laut und nervig – es konnte nur Hanji sein. Mit schweren Schritten betrat sie die Räumlichkeiten und hinterließ dabei einige Sandspuren, sodass Levi die Augen verdrehte. Bedacht trat er die Leiter hinab, während er sich die Schürze auszog.

„Hanji, du bist mal wieder kaum zu überhören..." ,zischte er, während er seine frühere Kommandantin aufmerksam ansah.
„Aaach..." ,meinte diese zunächst abwinkend. Ihre Hände verschwanden in ihrem Mantel, wühlten in dessen Taschen, um dann einen Umschlag hervorzuholen. Leichtzerknittert hielt sie ihn fest, um dabei hinzuzufügen:
„Wir haben heute einen Brief erhalten, der an -dN- gerichtet ist. Ich dachte, du würdest ihn lesen wollen..."

Bestimmend hielt Hanji ihm die besagten Papiere hin, doch Levi zögerte ein wenig, bevor er danach griff – immerhin konnte er nur hoffen, dass der Inhalt ihn weiterbringen würde, auch wenn er das Gegenteil befürchtete.
„Scheiße, was für eine Sauklaue..." ,schimpfte er, während er den Briefauffaltete, um einen ersten Blick zu erhaschen.
„Kannst du überhaupt schon die Schrift von denen lesen?" ,fragte Hanji nun. Auch sie schaute auf das Blatt Papier.
„Das Meiste..."

Im Raum breitete sich eine angenehme Stille aus. Konzentriert überflog Levi die Nachricht, um das Wichtigste zu erfahren und steckte sie daraufhin zurück in den Umschlag.
„Und was stand drinnen?"
„Das Miststück hat ihr Wort gehalten. Sie fragt, wann wir Kuchel abholen kommen. Da sie anscheint umgezogen ist, hat sie uns ihre Adresse zugesendet."
„Das ist ja wunderbar!" ,rief Hanji nun aus. Levis Blick wurde finster. Er sah auf den Boden und musterte dabei den sich legenden Staub. Die Finger in den Umschlag verkrampft, schmerzten sie leicht, bis er die Hand seiner Freundin auf seiner Schulter spürte.
„Es tut mir leid. Für dich ist es sicher nicht einfach..." ,meinte diese nun, doch Levi schüttelte den Kopf.
„Ich kann am Ende froh sein, dass wenigstens einer von uns für Kuchel übergeblieben ist."
„Weil du ein Ackermann bist."
„Nein, weil -dN- schon immer zu voreilig war..." ,seufzte er.

Ein leichtes Lächeln huschte Hanji über die Lippen. Sie legte den Kopf ein wenig in den Nacken und blickte zur Deckenleuchte.
„Ja, das war sie wirklich..." ,flüsterte sie, um dann wieder aus ihren Gedankenzurückzukehren. „Wirst du mit der Luftbrücke reisen?"

Levi nickte.
„Mit bleibt wohl nichts anderes übrig..."


Die eingerichtete Luftbrücke – ein Symbol der Freundschaft zwischen Paradies und seinen neuen Verbündeten – erfreute sich bei den Menschen an großer Beliebtheit. Auch an jenem Tag, als Levi mit ihr reiste, waren alle Plätze des Luftschiffes besetzt und die Fahrt durch lautes Gewusel kaum ertragbar. Er saß ganz hinten, in irgendeiner Ecke gedrängt und lass eine Zeitung, während die meisten Passagiere aus den großen Fenstern starrten und die Größe des Meeresbestaunten. Für das Volke Ymirs würden diese Dinge noch lange Besonderheiten darstellen, auch wenn die Gewohnheit auch auf ihrer Insel irgendwann einkehren würde – hoffentlich.

Als das Zeppelin am Zielort anlegte, war Levi einer der Letzten, die sich hinauswagten. Er zögerte kurz, hatte er diesen Ort doch bisher nur einmalbetreten und im Gegensatz zu jetzt war er damals nicht allein gewesen. Damals hatte sie ihn begleitetet, ihn dabei durch die Stadt geführt und an manchen Abenden sich an ihn gedrückt, so als wollte sie alles von ihm abverlangen. Und er hatte es zugelassen, seine Kontrolle dabei vergessen, um sie zu genießen. Sooft und dennoch nie genug.

Doch das alles waren nur noch Erinnerungen. Kleine Fragmente einer Zeit, die er immer wieder in sich hervorrief, um zu verhindern, sie zu verlieren. Denn er wollte es nicht. Er wollte ihr Gesicht nicht so vergessen, wie er das seiner Mutter irgendwann mit samt seiner Kindheit verdrängt hatte. Nicht ihre Berührungen so verleugnen, wie er die Schläge der Erwachsenen als Kind ignoriert hatte, um sie niemals mehr an sich spüren zu müssen. Ihre Wärme nicht in sich erlöschen lassen, um weitermachen zu können und diese Einsamkeit, die doch immer wieder an ihn herantrat, zu verscheuchen. Zumindest so lang, bis er sie wieder hatte: Kuchel. Wie lange hatte er darauf gewartet, seine Tochter wiedersehen zu können? Sie festhalten zu können und damit zu erahnen, dass in dieser Welt doch noch etwas von seiner früheren Gefährtin übrig war.

Levi biss die Zähne fest zusammen, als er den Flughafen verließ und nach einem Taxi winkte. Er zeigte dem Fahrer die Adresse und sah aus dem Fenster, während die Heimat -dNs- an ihm vorbeirauschte. Die großen Fabriken, die einmal mehr ihren Qualm in den Himmel pusteten, die Weintraubenplantagen, die diese beliebten Früchte hervorbrachten, und die großen Villen, die meist als kleine Gruppen zwischen den vielen Feldern angesiedelt waren. Meist glänzten sie mit ihrem weißen Putz im Sonnenlicht und zeigten sich dabei mit unglaublich großen Fenstern. Auch dies schien einer dieser modernen Bauarten zu sein.

„Wir sind da..." ,meinte der Fahrer rau, um Levi aus seinen Gedanken zu reißen.
„Warten sie hier! Ich hole nur etwas ab."

Levi stieg aus. Er krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch, während er sich umblickte. Auch dies war einer dieser Villen, vor der er nun stand. Groß, pompös und auffällig thronte sie auf dem kleinen Hügel vor ihm, um alle Blicke auf sich zu ziehen. Doch Levis Augen blieben nicht an solch einem Gebäude hängen. Wie immer interessierte ihn das alles herzlich wenig. Ganz anders war es bei dem kleinen Mädchen, welches in seinem weißen Kleid mit dem schwarzen Haar wippend vor einer Blume hockte und dabei vor sich hinstarrte. Es bereitete ihm Gänsehaut. Es ließ sein Herz plötzlich stehen bleiben. Wie schön sie war und wie unglaublich niedlich sie wirkte, wenn man sie von weitem beobachtete –das fiel ihm erst jetzt wieder auf.

Langsam ging Levi durch das offene Tor des reichlich bepflanzten Gartens. Ein Schritt nach dem anderen führte ihm zu dem Kind, welches nun mit ihrem Finger auf eine Blume zeigte. Sie schien etwas zu beobachten, folgte mit ihrer Hand einer Bewegung und sah erschrocken auf, als ein Schatten auf sie niederfiel. Ihre Augen groß und rund – starrten sie in die Dunkelheit und verharrten dabei, bis sie ihn erkannte.

„Papa!"

Sie erstrahlte. Voller Freude riss Kuchel die Arme hoch, sprang dabei aus der Hocke empor und griff bereits an seine Hüfte. Sie war größer geworden – ganz deutlich. So groß, dass Levi sich bereits jetzt fragte, was er alles in dieser Zeit, in der sie hier auf dem Hof lebte, verpasst hatte.

Levi ging in die Knie und umarmte die Kleine. Ihr seidiges Haar kitzelte auf seiner Haut. Der Duft seiner Tochter ließ ihn entspannen. Wie eine Sommerwiese voller Gänseblümchen roch sie frisch und blumig. Während er sich darin verlor ,zwängte sie sich ein wenig aus seinen Armen, um ihn anzugrinsen. Es war eines dieser Dinge, die sie von ihrer Mutter hatte: Dieses breite Lächeln, aus welchem man förmlich die Begeisterung seines Gegenübers herauslesen konnte. Er liebte dieses Lächeln.

„Ach, holt ihr Kuchel auch mal endlich ab?" ,fragte plötzlich die Stimme der Frau, die Levi gern als Miststück bezeichnete. Doch er stand auf, legte die Hand dabei auf Kuchels Kopf und sah Lina nur fragend an. Ihr Ton war auffällig nicht willkommen heißend, auch wenn er dies nie erwartet hatte.

Die schwarzhaarige Frau, welche einen Strohhut tief in ihr Gesicht fallend trug, sah sich kurz um.
„Wo ist -dN-? Hat sie noch nicht einmal Zeit, auch kurz vorbeizukommen? Oder ist sie gleich zu ihrem Vater? Eigentlich müsste sie sich bei ihm auch noch bedanken..." ,erklärte Lina. Mit ihrem rechten Arm drückte sie den Hut ein wenig hoch, um Levi direkt ins Gesicht zu sehen. Doch er wich ihrem Blick aus, starrte nur auf weit entfernte Blumen, die wie Farbkleckse wirkten, um dann leise zusagen:
„Sie ist gefallen..."

Es wurde still auf dem Hof. Der Wind pfiff an der Villa entlang und rauschte durch die Büsche.
„Hat Mama sich wehgetan?" ,warf Kuchel ein. Sie sah besorgt zu ihrem Vater hinauf, doch dieser schüttelte nur schweigend den Kopf, während er ihr durchs Haar strich.

„Das kann nicht sein..." ,flüsterte Lina. Ihre Hand vorm Mund gehalten, starrte sie Levi geschockt an. „Nicht sie! Nach allem, was sie für euch getan hat..."
Ihre Stimme klang rau, vorwurfsvoll, fast schon zustechend. Levi erkannte, dass sie einiges sagen wollte, doch sie ließ ihre Hand auf ihren Lippen gedrückt und schluckte es herunter. Vielleicht, um Kuchel zu schonen. Vielleicht auch, um sich selbst vor dieser sich anbahnenden Aufruhe zu bewahren. Er wusste es nicht, doch er war froh drüber, sich nicht ihre Predigten anhören zu müssen. Auch wenn sie viel für ihn getan hatte, konnte er diese Frau doch einfach nicht ausstehen.

„Ich bin nur hier, um Kuchel abzuholen." ,ergriff Levi nun das Wort, um diese Situation abzukürzen. „Unser Taxi wartet bereits."
Lina nickte.
„Gut... Ich lasse jemanden ihre Tasche zum Wagen bringen." ,meinte sie, während ihr Blick zu der Kleinen wanderte. „Du bist immer willkommen, Kuchel. Pass bitte auf dich auf!"

Kuchel nickte glücklich. Ihre kleine Hand grub sich in den Stoff von Levis Hose, zu welchem sie nun wieder aufblickte.
„Papa, ich will dir was zeigen!" ,sagte sie, während sie immer wieder daran zupfte. Levi lächelte. Schon lange hatte er nicht mehr das Bedürfnis danach gehabt. Doch jetzt, als er diese Neugierde und Aufgeschlossenheit in Kuchels Art sah, kam es ihm einfach über die Lippen. Er nickte und gab dem Zerren nach. Doch dann ließ sie ihn plötzlich los, rannte um die Ecke der Mauer, die den Garten schützend umgab, und rief ganz laut:
„Papa, schneller!"

„So ungeduldig wie du..." flüsterte Levi, als würde sie an seiner Seite sein. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und folgte seiner Tochter um die Ecke ,nur um es zu entdecken. Dieses Meer an Lavendelstauden, die zaghaft im Wind schwangen, so als würden sie ihm zuwinken. Während der Wind diesen Duft an ihn herantrug, um all die Erinnerungen an ihre Haut und an ihr Haar in ihm heraufzubeschwören, spürte er das Klopfen seines Herzens. Diese Gedanken, die ihn zeigten, dass sie nicht mehr da war, schmerzten in ihm.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now