85. Die Welt

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Einige Tage später – der Winter war noch deutlicher ins Land eingekehrt - trafen sich Hanji, Levi und ich gemeinsam mit zwei Journalisten in einem beliebten Restaurant in Mitras. Levi stand teetrinkend an einem Fenster und blickte heraus. Es war der Tag der Offenbarung. Die Bürger erfuhren nun über die Zeitung sowie Informationsblätter von den Titanen, die quasi ihre Mitmenschen waren, und von ihrer geografischen Lage. Eine typische Unruhe herrschte auf den Straßen. Wir alle wussten, dass dies nötig war und dennoch hatte sich eine gewisse Nervosität in unseren Reihen eingeschlichen.
„Die Menschheit außerhalb unseres Reiches ist nicht ausgerottet und hält uns, Ymirs Leute, für das Volk des Teufels." warf einer der Journalisten ein, mit welchem die Kommandantin und ich am Tisch saßen. Ich nickte.
„So kann man das sagen..." Eilig stopfte ich ein Stück Kuchen in meinen Mund. Mein Hunger hatte sich in den letzten Tagen eines enormen Zuwachses erfreut, wohingegen die Übelkeit immer weiter abnahm. Der Journalist beobachtete mich. Er schaute etwas verdutzt, meinte jedoch dann:
„Unsere Feinde werden in naher Zukunft unter dem Vorwand der Rohstoffgewinnung mit der Invasion unseres Landes beginnen."
„Und der Überfall des Kolossalen Titans vor fünf Jahren war der Beginn. Die Story ist bereits gedruckt, aber für wie glaubwürdig halten sie sie?" unterbrach ihn sein älterer Kollege. Hanji sah zu mir und dann zu Levi, der sich ebenfalls an den Tisch setzte.
„Zumindest deckt es sich mit den Fragen und Zweifeln, die wir hatten. Aber ich möchte sie selbst auch nicht glauben, obwohl -dN- Recht hat." Die beiden Männer blickten zu mir. Der Jüngere von ihnen ergriff das Wort:
„Die Reaktionen im Volk sind gemischt. Einige akzeptieren die Story, andere lachen sie weg. Es herrscht Chaos, genau wie sie befürchtet haben."
„Das ist ganz normal und herrscht in vielen anderen Ländern ebenfalls, sobald Krieg oder eine andere Krise vorliegt." meinte ich nur und spülte ein weiteres Stück meines Gebäcks mit Tee hinunter.
„Außerdem werden sie dafür bezahlt, so etwas zu berichten. Die Informationen gehören dem Steuerzahler. Darin unterscheiden wir uns vom vorherigen König." schimpfte Hanji nun.
„Ich bin sehr stolz auf euch. Als Bewohner der Mauern und als arbeitender Bürger." sagte der ältere Mann schwermütig.
„Ach ja? Wie wärs dann mal mit einen positiven Bericht über den Aufklärungstrupp?" fragte Levi nun. Er stützte seinen Kopf mit seiner Hand ab. Die Männer lächelten, doch dann kamen ihre Zweifel plötzlich zurück.
„Wie soll es denn nur weitergehen?" fragte der ältere Mann, „Wir haben die Titanen gefürchtet und uns gewünscht, dass sie für immer aus der Welt verschwinden mögen. Und genauso sieht uns der Rest der Welt. Für die sind wir keine Menschen, sondern Monster. Auf die Art wiederholt sich dasselbe wieder und wieder und diese Hölle wird erst enden, wenn wir ausgelöscht sind."
Levi sah zu mir. Wahrscheinlich erinnerte er sich an das Buch, von welchem ich ihm erzählt hatte – das Buch über die Monster dieser Insel. Ich schluckte schwerfällig. Mein Kuchen bleib mir fast im Halse stecken. Seine Süße war in eine Bitterkeit übergegangen.
„Damit habt ihr zum einen Recht. Doch es wird auch Menschen geben, die euer Volk akzeptieren." warf ich ein.
„Wie viele sollen das sein? Eine Handvoll? Ein paar Hundert oder vielleicht ein einzelnes Land?" Ich schüttelte den Kopf.
„Darauf wird es gar nicht ankommen.... Entscheidender ist, wer auf eurer Seite steht und wie wir mit dieser Situation umgehen werden." erklärte ich, doch die Zweifel dieser Männer wollten nicht schwinden. Levi seufzte und lag seine Hand auf meinen Oberschenkel.
„Lass erstmal gut sein." meinte er. Unsicher senkte ich meinen Blick und entdeckte die Stummel an meiner Hand. Sie erinnerten mich an all die Kämpfe, die wir bestritten hatten. All die Opfer, die wir gemacht hatten, um so weit zu kommen. Sie würden nicht umsonst sein, selbst wenn diese Welt Angst haben sollte. Irgendwer würde dieses Volk akzeptieren. Irgendwer würde ihnen zur Hilfe kommen und sie erretten. Es war nur eine Frage der Zeit und der Perspektive.

Gemeinsam mit Hanji und Levi schritt ich über den Marktplatz und folgte ihnen zur Militärkaserne, in welcher Hanji sich ein Büro hatte einrichten lassen.
„Um mehr Kontakt zu den anderen Trupps zu haben." hatte sie uns erklärt und dabei offenbart, dass sie den Aufklärungstrupp nicht mehr allein als Zuständigen für die Außeneinsätze sah.
Wir betraten den Raum. Er war recht geräumig und mit einigen edlen Holzmöbeln ausgestattet. Doch all diese Möbel interessierten die Kommandantin kaum. Ihr Fokus lag auf der großen Pinwand, die sie aufstellen lassen hatte.
„Ich habe einiges an Papier besorgt, -dN-. Es ist Zeit zu arbeiten!" rief die Braunhaarige aus, nachdem ich die Tür hinter uns geschlossen hatte. Levi stöhnte genervt.
„Lass sie erstmal verdauen! Sie kann doch kaum laufen..."
„Das stimmt nicht!" rief ich aus und schritt an ihm vorbei. Energisch nahm ich einige Blätter vom Stapel sowie einen Stift und setzte mich an den Schreibtisch. Ich skizzierte zunächst etwas trotzig eine kleine Weltkarte auf einem einzelnen Papier, um dann die Blätter aneinanderzulegen und in einzelnen Schritten zu bemalen. Es war mühselig und vieles war sicherlich nicht detailgetreu dargestellt, aber ich kam voran. Hanji grinste. Immer wieder nahm sie oder Levi eines der Blätter und befestigte es an der Stelle, die ich vorgab. Immer wieder entdeckte ich, wie einer der Beiden innehielt und unglaubwürdig auf die Karte starrte, um vielleicht irgendetwas zu erkennen. Doch ihre Blicke offenbarten ihre Ahnungslosigkeit.
Und wo sind wir?" fragte Hanji ganz aufgeregt, als ich mit dem letzten Kartenteil aufstand und ihn in Ruhe anbrachte. Ich seufzte und zeigte auf die Insel, auf der wir uns befanden.
„Dort. Das ist die Insel Paradies! Ihr müsst das Ganze jetzt mit eurer Schrift beschriften! Ich sage die Dinge einfach an."
„Wir sind nur das kleine Teil da?" Levi ignorierte meine Aufforderung und blickte mich argwöhnisch an. Ich nickte. „Wie willst du mir den Rest denn zeigen, wenn das so groß ist?"
Seine Augen starrten mich unsicher an.
„Alles werden wir nicht sehen können, aber wenn wir fliegen, können wir schon einiges sehen."
„Fliegen?" schrie Hanji fast in mein Ohr. Ich nickte.
„Ja, in vielen Ländern gibt es Zeppeline. Hier und da sogar Flugzeuge. Das sind Dinge mit denen man über das Wasser oder über das Land hinwegfliegen kann. Wie ein Vogel, quasi."
Levis Blick blieb starr. Wahrscheinlich hatte ich ihn irgendwo zwischen fliegen und Vogel gedanklich verloren. Doch ich verstand, was in ihm vorging. Dieses Wissen schlug wie ein Steinschlag auf ihn ein, ohne ihm eine Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren. Er musste es ertragen, verarbeiten und akzeptieren. Egal wie schwierig es für ihn war.
„Wenn die Welt so groß ist, muss es ja unglaublich viele Menschen geben!" Hanjis Begeisterung steigerte sich mittlerweile ins Unermessliche. Ihre Gedankengänge liebten diese Steinschläge an Wissen.
„Ja, ca. zwei Milliarden Menschen leben auf der Erde."
Eine Stille kehrte ein. Eine Stille, die die Luft beinah zum Knistern brachte.
„Zwei Milliarden..." sprach mir Hanji nach. Sie drehte sich weg und setzte sich plötzlich an ihren Schreibtisch. Ihren Kopf setzte sie auf ihre Hand ab. „So viele..."
Unsicher schluckte ich und hielt inne. Vielleicht waren dies zu viele Informationen für einen Tag gewesen. Vielleicht hätte ich langsamer machen sollen, doch wie viel Zeit blieb uns, bis all diese Menschen zu unserer Insel herüberblicken würden? Wie viel Zeit blieb, bis sie uns angreifen würden? Ich wusste es nicht und deswegen musste ich alles daransetzen, dass wir so schnell wie möglich vorankamen – selbst, wenn ich Levi und Hanji dabei überfordern musste.
„Und wo kommst du her?" riss mich Levi aus dieser Erkenntnis. Er blickte mich interessiert an. Mein Herz klopfte. Seine Frage wirkte beinah niedlich. Vorsichtig setzte ich meinen Finger auf eine Stelle der Karte – es musste ungefähr das Gebiet sein, in dem meine Heimatstadt liegen musste – und lächelte. So weit war dieses Land entfernt. So unerreichbar für das Volk Ümirs gewesen und dennoch hatte ich hierher gefunden. Unsicher sah ich immer wieder von dem einen Punkt der Karte zum anderen herüber und merkte erst jetzt, wie unwahrscheinlich dieser ganze Verlauf meines Lebens gewesen war. Wie klein diese Chance - und dennoch war ich ihm begegnet. Diesem Mann, der nun mit einem Stift zögerlich einen Punkt an der von mir gezeigten Stelle malte und meine Initialen darüber zeichnete, so als wusste er, wie viel es mir bedeutete.     

Grenzen vergessen Levi x ReaderDonde viven las historias. Descúbrelo ahora