74. Weg in die Verdrängung

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Mit weißen Lilien im Arm betrat ich den Friedhof von Trost. Es war eine recht kleine und überschaubare Ruhestätte. Die Gräber drängten sich aneinander. Zwischen ihnen war nur wenig Platz, um so viele Tote wie nur möglich unterzubringen. Ich bekam Gänsehaut. Diese Gräber wirkten wie Käfige, die zur Aufbewahrung von Toten verwendet wurden – mehr nicht. Ich quetschte mich förmlich zwischen den Steinen hindurch, über einige stieg ich hinweg, um den recht neuen Bereich des Friedhofes zu erreichen. Hier irgendwo musste sie liegen – Petra. Wie lange hatte ich gebraucht, um sie endlich besuchen zu können? Wie viel hatte sich seitdem verändert? Ich dachte an unser letztes Gespräch. Wie sie mir von ihren Gefühlen zu Auruo erzählt hatte und wie unglaubwürdig sie geschaut hatte, als sie erkannte, dass ich mich zu Levi hingezogen fühlte. Mich überkam ein Lächeln. Was hätte sie wohl dazu gesagt, dass ich und er nun ein Paar waren?
„Gelächelt hättest du..." sagte ich und blickte auf den Stein, in dem ihr Name eingraviert war. Da war sie also. Zwischen all diesen Gräbern wirkte ihres wie jedes andere – eingereiht in die passende Lücke. Ich seufzte. Wie sollte die Seele hier ihre Flügel ausbreiten? Wie nach der Freiheit greifen? Unsicher schüttelte ich meinen Kopf.
„Was für ein unpassender Ort für dich." flüsterte ich und lag die Lilien auf ihr Grab, welches bereits vom Gras überwuchert wurde. Ich setzte mich hinein und blickte zum Himmel. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und lag einen schweren Schatten über die Stadt. Der Wind wehte durch mein Haar. Er war eiskalt und trug den Winter immer näher an uns heran.
„Du wirst nicht glauben, was alles passiert ist." begann ich zu erzählen. Ich war mir sicher, dass ihre Seele dort unten in der Dunkelheit festsaß. Sicher, dass sie in ihrem Körper gefangen war und mir nun zuhörte. Egal wie – sie hörte mich. Alles, was mir auf der Seele lag - ich quasselte es heraus und sah sie vor mir. Wie sie nickte, wie sie lächelte und wie sie mit ihren Händen artikulierte. Die Ruhe überkam mich. Ich griff in das kalte Gras, was zwischen meinen Fingern kitzelte, spielte damit und ließ meinen Geist ins Leere blicken. Die Welt verschwamm um mich herum. Nur das Licht, welches plötzlich wieder hinab zu mir schien, nahm ich wahr.
„Wie lange willst du noch in der Gegend herumstarren?" hörte ich plötzlich und drehte mich um. Levi stand hinter mir. Er blickte zu mir hinunter. Seine Hände hatte er in seinem Mantel versteckt und drückte sie gegen seinen Körper. Er fror wahrscheinlich. „Du bist die Letzte, die noch fehlt. Es gibt Planänderungen. Wir werden einige weitere Tage in Trost verbringen und müssen gleich einer Audienz beiwohnen. Eigentlich dachte ich, dass ich dich aus dem Bett zerren müsse..." Ich stand auf und lächelte.
„Ich musste Petra noch besuchen."
„Ich weiß." Levis blickte an mir vorbei auf das Grab unserer Kameradin. „Es ist schon einige Zeit her." meinte er.
„Ja.... Seitdem ist viel passiert..." Mein Blick schweifte über den Friedhof. Wie viele dieser Steine galten den Soldaten des Aufklärungstrupps? Wie viele dieser Menschen hier waren Opfer der Titanen? Ich biss die Zähne zusammen. Keiner von uns hatte sie retten können – egal wie viel Mühe wir uns gegeben hatten. Am Ende reihten wir die Toten aneinander und ließen sie hinter uns. „In meiner Heimat beerdigen wir nur selten Menschen." sagte ich plötzlich. Levis Augen weiteten sich, doch ich ignorierte es und sprach einfach weiter. „Wir verbrennen sie und lassen ihre Asche in die Flüsse oder ins Meer tauchen, um ihrer Seele die Freiheit zu schenken."
„Ist das eine Bitte?" fragte Levi nun. Er trat an mich heran.
„Ja. Verbrenn mich oder werfe mich einfach ins Wasser! Ich will nicht in so einem Loch landen." schimpfte ich schon fast und blickte hinunter zu Petra. Ich hörte Levis Seufzen und spürte seine Hand auf meinem Kopf.
„Wenn das dein Wunsch ist..." sagte er nur. Energisch griff ich in den Stoff seines Mantels und blickte in seine Augen. Ich entdeckte seinen Kummer. Die Unsicherheit darüber, ob er mich eines Tages hinter sich lassen müsste, so wie er es schon mit so Vielen getan hatte, nur um weiter voranzuschreiten. Ich zog an seinem Mantel, zog ihn an mich heran und küsste ihn. Zurückhaltend und dennoch bestimmend. Levi seufzte in mich hinein und ließ meine Zunge nach seiner Angst greifen. Auch wenn ich sie ihm niemals nehmen konnte – sie niemals aus ihn herausreißen könnte – wollte ich ihn davon befreien. Also drang ich seinen Kummer fort, indem ich mich tief in ihn hineinschob. Es war unsere einzige Möglichkeit unser Glück zu empfinden. Nicht nur ich hatte mich dazu entschieden, diesen Weg einzuschlagen. Er schritt genauso in die Welt des Verdrängens, um unsere Gefühle zu ertragen. Doch eines Tages würde diese Welt zerbrechen und uns mit der Realität ertränken. Die Frage war nur, wen es von uns treffen würde. Wer diese Wahrheit im Moment des Verlustes ertragen müsste. Wir beide wussten, dass wir den Tod vorzogen. Das hatte uns die ganze Situation in Shiganshina offenbart. Letztendlich waren wir Beide egoistisch genug gewesen, den Anderen retten zu wollen. Ich löste meine Lippen von seinen und sah in sein Gesicht. Immer wieder würde ich mein Sterben dem seinen vorziehen. Niemals würde ich ertragen, seine Augen leblos vorzufinden.
„Ich liebe dich." flüsterte ich und schritt damit selbst zurück in die Ignoranz, um sie noch ein wenig länger zu genießen. Levi nahm dabei meine Hand und zeigte mir den Weg. Den Weg zurück in die Verdrängung.

Die besagte Audienz, die Levi angekündigt hatte, war nichts anderes als die Verurteilung von Mikasa und Eren auf Grund ihrer ungehorsamen Taten bei der letzten Mission. Die Beiden wurde zu zwanzig Tagen Haft bestraft, welche sie in einem kleinen Kerker von Trost verbrachten. Ich seufzte, als ich am Abend mit Hanji und Levi am gewohnten Tisch des Gasthauses saß. An einem Stück Käse, welches ich mir auf dem Markt gekauft hatte, knabbernd, fragte ich die Beiden:
„Meint ihr nicht, dass das eine zu harte Strafe ist?" Hanji zuckte mit den Schultern.
„Über Härte lässt sich hier streiten. Du warst doch diejenige, die Eren fast das Genick gebrochen hat..." Ich blickte die Kommandantin erschrocken an. Sie stöhnte angestrengt und fasste sich am Kopf. „Wir müssen das tun, um die Disziplin im Trupp aufrecht zu erhalten. In zehn Tagen werden Genral Zackley und die Königin in Trost eintreffen. Dann sehen wir, ob wir die Bestrafung verkürzen können."
Zweifelnd blickte ich zu Levi. Er nahm einen Schluck Tee und sah auf.
„Eine Käseplatte. Ich wünsche Ihnen guten Appetit." sagte plötzlich der Kellner und stellte einen großen Teller in die Mitte unseres Tisches. Ich musterte die Platte und blickte prüfend um mich.
„Ah, Levi... seit wann denn so fürsorglich?" stachelte Hanji den Gefreiten und grinste. Sie griff nach einem großen Stück Käse und stopfte es in ihren Mund. „Stört dich nicht, wenn ich mich daran bediene, oder?" meinte sie dabei.
Ich lächelte ihr zu, doch spürte ich gleichzeitig die Röte in meinem Gesicht. Mein Blick wanderte zu Levi, der mich konzentriert ansah. Mein Herz klopfte.
„Iss ruhig! Ich habe das nicht für die verfressene Kommandantin hier bestellt." Genervt zeigte er zu Hanji, die bereits das zweite Stück nahm und dabei sichtlich angetan schien.
„Du willst sie doch nicht mästen." scherzte sie, während sie kaute.
„Mach deinen Mund zu! Ich will dein angekautes Zeug nicht sehen... Ist ja widerlich." zischte Levi. Ich lachte auf und griff selbst zu einem Stück Gouda. Es war einer dieser Momente, die mich über all das Leid hinwegtrösteten. Ein Moment, in dem ich vergessen konnte, was geschehen war und würde. Genüsslich biss ich in den Käse und ließ sein Aroma in mich hineinlaufen. Er war unglaublich salzig und recht fest. So ein gutes Stück hatte ich schon lange nicht mehr gegessen. Hanji beobachtete mich kurz, nahm eine Ecke des Camemberts und stand dann auf.
„Ich glaube, ich sollte euch Beide mal lieber allein lassen." meinte sie und zwinkerte mir zu.
„Dann überfällt sie mich wieder..." seufzte Levi. Ich schrak auf.
„Was?" rief ich schon fast. Mein Gesicht wurde heiß. Nach meinem Gefühl zu urteilen, mussten meine Wangen bereits feuerrot leuchten. Doch dann hörte ich sein Lachen und mein Körper begann zu kribbeln. Auch Hanji stand einfach nur da und starrte zu Levi hinunter, bis er verdutzt zu uns sah.
„Was ist?" fragte er verständnislos. Ich grinste und schwieg. Aber in mir selbst herrschte ein Feuerwerk der Gefühle. Mit diesem Lachen hatte er es entfacht und gleichzeitig seine Veränderung offenbart. Er zeigte immer mehr, was er empfand und öffnete hin und wieder diese eine Tür, die er vor Jahrzehnten verschlossen hatte, um niemanden an sich heranzulassen. Doch nun stand sie einen spaltweit offen und ließ mich hineinblicken – in diesen Menschen, den ich so bewunderte.
„Dann euch eine gute Nacht." verabschiedete Hanji sich nun. Ich nickte ihr zu und sah der Braunhaarigen hinterher.
„-dN-, ich werde morgen mit einigen Leuten nach Shiganshina aufbrechen." meinte Levi nun und nahm selbst ein Stück von der Platte.
„Wollt ihr die Leichen bergen?" Levi nickte und sah mich eindringlich an.
„Wir werden so viele wie möglich nach Trost und Ehrmich transportieren. Auch Erwin werde ich hierherbringen lassen, damit sie ihn konservieren, bis wir ihn in Mitras beerdigen können. Ich will nicht, dass du mitkommst, -dN-! Das Ganze wird wahrscheinlich ziemlich ekelerregend werden, von dem Gestank mal ganz abgesehen..." Ein Seufzen entglitt mir, doch ich verstand, was Levi meinte. In meinem jetzigen Zustand könnte ich eher zu einem Hindernis werden, welches ihn oder andere an der Arbeit abhalten würde. Im schlimmsten Fall würde ich ein effektives Vorankommen durch meine Übelkeit oder mein Erbrechen verhindern und den Zeitplan gefährden. Ich blickte in Levis Augen. Er wusste, dass ich allein diese Einschränkung hasste, doch sein Blick zeigte mir, dass er auf meine Einsicht vertraute.
„In Ordnung." meinte ich nur und griff zum Käse, der langsam ein Druckgefühl in meinem Bauch auslöste. „Wie lange werdet ihr weg sein?"
„Drei bis vier Tage..."
„Dann werde ich wohl hier auf dich warten." stöhnte ich heraus. Levi lächelte.
„Das ich so etwas mal aus deinem Mund höre..." Auch mich überkam ein Lächeln. Ich stützte meinen Kopf mit einer Hand ab und grinste ihn an.
„Gewöhn dich bloß nicht daran, Levi!"

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt