116. Vater und Tochter

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Wir schritten durch die Schatten der Stadt, die noch lauter und stinkender war, als ich sie in Erinnerung hatte.

Levi nahm sich zurück. Er folgte mir, sah sich nur hin und wieder einige Dinge an, um so unauffällig wie möglich zu wirken. Sein Staunen, welches mein Herz sonst immer höher schlagen ließ, zeigte er nicht.

„Die scheiß Eisenpferde sind verdammt laut..." ,beschwerte er sich. Ich nickte.
„Ja, am Anfang gab es nicht so viele, aber mittlerweile hat jeder Gutbetuchte ein eigenes. Das wird langsam etwas viel" ,erklärte ich ihm.

Ich bog um eine Ecke ab, um die bekannteste Einkaufsstraße der Hafenstadt zu betreten. Hier, wo ein Laden nach dem anderen um die Aufmerksamkeit der Kunden rang, musste das Lokal sein, welches mein Vater als Treffpunkt erwählt hatte. Es war ein berühmtes Ambiente, welches am Tage als Café und in der Nacht als Bar besucht werden konnte. Selbst Tanzveranstaltungen wurden dabei nicht selten abgehalten, um so viele Gäste, wie nur möglich, hereinzulocken.

„Ah, da ist es!" ,rief ich aus und blieb vor der großen Eingangstür stehen. Sie war wie das gesamte Ambiente in einem urigen Stil gehalten. Die meisten Menschen liebten die dadurch entstehende Stimmung, so als würden sie sich nach der Vergangenheit sehnen und den Maschinen oder ihren Pflichten in den Fabriken entkommen wollen.

Mein Blick wanderte zu Levi, der durch das kleine Fenster in der Tür hineinsah.
„Ähm... können wir unser Verhältnis erstmal nicht thematisieren?" ,fragte ich. Es stach in meinem Herzen. Ich wollte nicht, dass Levi dachte, ich würde ihn verheimlichen wollen und das war auch nicht meine Absicht. Doch meinem Vater als Erstes unsere Beziehung zu offenbaren, um dann wahrscheinlich an diesem Thema für den Rest des Gespräches hängen zu bleiben, stellte für mich ebenfalls keine wirkliche Option dar.

„Schon in Ordnung" ,meinte Levi nur. Er steckte eine Hand in die Hosentasche, während er weiter zu diesem kleinen Fenster starrte – mich ignorierend. Ich presste meine Lippen zusammen. Es kribbelte in meinen Fingern.
„Bitte, gib mir etwas Zeit..." ,flüsterte ich, während ich den Türgriff ergreifen wollte, doch Levi packte mich am Handgelenk. Er zog mich etwas an sich heran und musterte mein Gesicht.
„Es ist dein Leben. Tue einfach das, was du für richtig hältst." Dann ging er rein und ich folgte ihm. Obwohl mir in diesem Moment so viele Worte durch den Kopf rannten, sagte ich nichts mehr. Ich schwieg einfach, hoffte darauf, dass er es irgendwie verstehen würde, und sah mich um.

Das Ambiente hatte sich kaum verändert. Noch immer hingen dicke Rauchschwaden in dem gesamten Gastraum, sodass ich meine Nase rümpfte, um ein Husten zu unterdrücken. Die Möbel waren altmodisch, jedoch von einer hochwertigen Qualität, was vor allem der Glanz des Holzes verriet. Hier und da standen Tische mit Stühlen, die geschwungene Beine und Lehnen hatten, wobei einige große Sitzecken diesen Stil brachen.

„Haben Sie reserviert?" ,fragte uns ein Kellner. Er starrte auf mein Gesicht, brauchte eine kurze Zeit, um dann hinzuzufügen: „Der Minister erwartete sie bereits, meine Dame. Ist dies Ihre Begleitung?"
Ich nickte.
„Ja, zeigen sie mir den Tisch!"
„Sehr wohl."

Die Bedienung schritt durch den Raum und führte uns in ein kleines Nebenzimmer, in dessen Mitte ein großer Tisch mit einigen Stühlen standen. Es war einer dieser Räume, die man buchen konnte, um sich privat zu vergnügen oder Geschäfte zu machen. An diesem besagten Tisch entdeckte ich ihn:

Meinen Vater.

Er saß, begleitet von zwei Soldaten, dort und las eine Zeitung, bis er aufsah, um zu mir herüberzulächeln.

Sein Aussehen – es verriet mir, dass ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, denn sein Haar war bereits leicht ergraut und auch sein Schnauzer, den er nun trug, betonte sein Alter. In seinem Gesicht schimmerten die Zeichen unserer Familie. Auch er hatte sie aufgetragen, wobei er es sich nicht hatte nehmen lassen, dazu einen hochwertigen Anzug mit Fliege zu tragen. Sein Monokel war an einem Goldkettchen befestigt, welches im hereinfallenden Licht auffällig glänzte. Es musste recht neu sein.

„Ah, -dN-. Du bist alt geworden, mein Kind!" begrüßte mich mein Vater auf seine typische Art. Ich verdrehte die Augen.
„Vater..."
Ich griff nach einem Stuhl und setzte mich. Levi tat es mir gleich, während er die gedeckte Tafel musterte. Wahrscheinlich suchte er nach Auffälligkeiten, sodass ich mich auf das Gespräch konzentrieren konnte.

„Wie ich sehe, kommst du mit einer Leibwache. Schenkst du deinem alten Vater kein Vertrauen mehr, meine Liebe? Nun ja, wie dem auch sei. Bedient euch gern! Ich habe einige Köstlichkeiten unseres Landes bestellt. Man soll wichtige Gespräche nicht mit leeren Magen führen – so sagt man doch, nicht wahr?" ,erklärte der Minister und nahm sich selbst von dem fettigen Gebäck.
Ich nickte kurz. Eilig ergriff ich die Teekanne und goss mir ein. Levi schob seine Tasse dazu und schwieg.

„So -dN-, es ist in den letzten Jahren ja nicht gerade üblich gewesen, dass du dich meldest. Also was hast du die ganze Zeit getrieben?" ,warf der ältere Herr nun ein. Er bestimmte das Gespräch – das spürte ich sofort. Diese dominante Art, die sich mir bereits in den ersten Minuten unseres Wiedersehens aufzwang. Sie erinnerte mich an meine Kindheit und an die Gründe, warum ich, so schnell wie möglich, abgehauen war.

„Nichts, was dich interessieren würde... Ich habe Paradies im Kampf unterstützt und dort gelebt."
„Nun ja. Es interessiert mich schon, mein Kind. Immerhin muss ich dein Fehlverhalten nun gradebiegen. Zudem wird es von Nöten sein, alles ein wenig unfreiwillig darzustellen, meine Liebe. Ich habe vor Werner nur in höchsten Tönen von dir gesprochen. Deine Treue zu unserem Land und deine Schönheit gelobt, um deine mir bekannte Sturheit zu verschweigen."
„Vater, ich..."
„Nein, nein, mein Kind. Danke mir nicht. Mir ist bewusst, dass du einiges auf dieser Insel durchgemacht haben musst. Sicherlich sehnst du dich nach einem starken Mann und einem warmen Zuhause. Wie soll es auch anders sein, du bist in dem besten Alter, um nun Kinder zu bekommen. Außerdem..."

Das Geschwafel meines Vaters hielt an. Irgendwann – ich weiß nicht mehr, bei welcher Kritik oder Forderung es war – schaltete mein Kopf aus. Ich hörte ihn nicht mehr, nahm nur das Rauschen des Windes, welcher draußen tobte wahr, und starrte dabei auf mein Gebäck.

Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, meinen Vater um Hilfe bitten zu wollen? Das fragte ich mich zwischendurch. Doch mein Geist war zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was ich nun sagen musste, um mein Anliegen vorzutragen.

„... wir müssen unbedingt etwas an deinem Stil machen, meine Liebe. Wie ich Werner einschätze, wird er offenes Haar nicht als angebracht ansehen. Generell solltest du deine offene Art etwas zügeln, mein Kind. Wir wollen ja nicht, dass du noch als..."

„Sie hat es verstanden." ,unterbrach Levi plötzlich meinen Vater. Dieser schaute ein wenig irritiert zu meiner Begleitung.
„Wie bitte?"
„Wir sind nicht hier, um uns das Geschwafel eines alten Mannes anzuhören. Sie sollten -dN- zu Wort kommen lassen, bevor sie weiter vor sich hin schwatzen. Ist ja nicht auszuhalten..."
Levi sah zu mir. Allein sein Blick genügte, um mir klar zu machen, dass ich das Wort ergreifen sollte, doch ich zögerte, während ich an meinen Fingerstummeln knibbelte.

„Nun, -dN-... Vielleicht solltest du mir den Herren einmal vorstellen, damit ich einen Namen zu diesem Manieren losen Etwas habe?"
„Das ist der Hauptgefreite Levi Ackermann. Er begleitet mich auf dieser Reise zusammen mit unserer Kommandantin" ,antwortete ich kurz.
„So so, Herr Ackermann. Sie müssen wissen, in unserem Land herrschen bestimmte Regeln. Aber wie dem auch sei. Jemand aus ihrer zurückgebliebenen Heimat wird dies wohl kaum begreifen können." Mein Vater blickte in die Runde und fügte dann hinzu: „So, -dN-. Was ist es, was du sagen möchtest, Kind?"

„Nun..."
Ich stotterte ein wenig, sortierte dabei jedoch meine Gedanken, um daraufhin die Lage von Paradies zu erklären. Ich erzählte von den Titanen, die Marley auf die Insel gebracht hatten. Von den Jahrzehnten in denen dieser Krieg so geführt wurde und von dem, was ich in meiner Zeit auf Paradies erlebt hatte. Natürlich blieb ich auf einer rein sachlichen Ebene und erwähnte keine einzelne Person und ihre Rolle in diesem Krieg – es würde meinen Vater ohnehin nicht interessieren.
„Wie es aussieht, ist Marley zurzeit an anderen Fronten beschäftigt, wodurch wir etwas Zeit gewinnen konnten, doch wenn der nächste Militärschlag auf uns zu kommt, wissen wir nicht, ob wir dem Stand halten können."
„Was bedeutet?" ,fragte der Mann nun leicht genervt, während er mit den Fingern auf dem Tisch leise trommelte.

„Wir benötigen Unterstützung."

„Gehe ich zu Recht von der Annahme aus, dass dies eine Bitte um eine solche Unterstützung darstellt? Weißt du, wie sehr ich mich darum bemüht habe, dein Verschwinden zu erklären, um dir hier bei uns eine neue Möglichkeit zu bieten? Eine Heirat in ein gutes Haus, ein vielarbeitender Ehemann, um dir deine geliebten Freiheiten zu bieten. Selbst eine Position bei unserem Staat hätte ich dir ermöglichen können. Gewiss, du hättest es hier leicht, -dN-. Doch du bittest mich als eine Frau aus Paradies um militärische Unterstützung?"

Der Blick meines Vaters war stechend. Ich schluckte schwerfällig und blickte zu Levi, der dem Gespräch regungslos folgte. Er nahm seine Tasse. Seine Finger glitten an den Rand des Porzellans entlang – ganz vorsichtig – während er an seinem Tee nippte. Ich sah zu dem Minister, der das Prozedere ebenfalls irritiert beobachtete, und musste lächeln. Nicht nur mich brachte Levi mit dieser Weise aus dem Konzept.

„Auf Paradies gibt es wohl keine Henkel?" merkte mein Vater nun an und schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu sortieren. „Was ist denn der Plan, meine Liebe?" fügte er ironisch hinzu.

„Es gibt keinen" , meinte ich. „Im Moment warten wir ab und bereiten uns vor. Es wird nicht ewig so ruhig bleiben. Wenn der Angriff kommt, müssen wir schnell handlungsfähig sein" ,erklärte ich, während ich meinen Rock etwas hochhob, um darunter etwas hervorzuholen. „Ich habe ein paar Dinge, die ich dir erzählt habe, in einem Bericht zusammengefasst. Falls du dich dafür einsetzen möchtest, Paradies eine Stütze zu sein, oder falls ihr etwas gegen Marley benötigt..."

Vorsichtig reichte ich die Papiere meinem Vater über den Tisch hinweg. Er nahm sie, musterte mein Gesicht, woraufhin er sein Monokel leicht richtete.

„Ich werde es mir überlegen, -dN-. Du kannst dir vorstellen, dass Paradies nicht unbedingt als Bündnispartner auf der Liste der anderen Minister steht. Ich würde behaupten, es sei den meisten noch nicht mal als schützenswertes Land bekannt. Doch ich mache mir gern selbst ein Urteil. Bring mich zu deiner Kommandantin!"

Mein Vater stand bereits auf, indem er sich auf seinen schwarzlackierten Gehstock abstützte. Die beiden Soldaten neben ihm sprangen auf. Sie stützten ihn leicht und stellten Fragen nach seinem Befinden oder boten Hilfe an. Ich war überrascht, wie stark dieser Mann in den letzten Jahren abgebaut hatte. Anscheint hatte er ein Problem mit seinem rechten Bein, was er leicht nachzog.
„Sie sind bewaffnet" ,wies einer der Soldaten meinen Vater hin.
„Ich weiß, ich weiß. Das sieht meiner Tochter ganz ähnlich."

„Pudern die ihm auch dem Arsch nachm Kacken?" ,warf Levi ein, als er sich zu mir stellte, um mit mir gemeinsam das Lokal zu verlassen. Wir gingen vor und warteten vor der Tür auf die drei Männer, die doch eine gewisse Zeit benötigten.

„Verdammt, jetzt will er mit Hanji sprechen..." ,schnauzte ich, als wir kurz ungestört waren. Levi hatte die Hände in seine Hosentasche gestopft und sah mich skeptisch an.
„Mach dir keine Gedanken! So eigenartig sie auch ist, in wichtigen Momenten kann sie sich beherrschen." ,erklärte er, bevor er seine Hand langsam auf meinen Kopf zubewegte. Ich zog die Schultern ein wenig hoch, erwartete diese Berührung, die ich von ihm gewohnt war, doch als sich die Tür plötzlich öffnete, zog Levi sie zurück und blickte erschrocken auf. Ich seufzte.

Mein Vater trat heraus. Das Sonnenlicht betonte die Falten in seinem Gesicht. Unsicher blickte ich zu dem alten Herrn, der mir nun zunickte. Seit wann wirkte er so kränklich? Seit wann waren seine Augen so trüb? Ich wusste es nicht – ich wusste ja noch nicht einmal, wann ich ihn das letzte Mal so genau betrachtete hatte. Doch in mir schien sich nichts zu regen. Ich war innerlich ausgekühlt – fast schon tot – in seinem Beisein. Er gab mir rein gar nicht außer dieses Wort „Vater". Ein Wort, dessen Bedeutung ich erst seit einiger Zeit wirklich fassen konnte und welches nicht wirklich auf ihn zutraf.

Ich schüttelte den Kopf. Für solche Gedanken war ich nicht hier.
„Folgt uns! Wir liegen am Harfen" ,meinte ich, um daraufhin vorzugehen. Während Levi immer wieder prüfte, ob unsere Gefolgschaft nachkam, zeigte ich ihnen den Weg zu unserem Anlegeplatz. Mein Herz klopfte. Nicht nur um Hanji machte ich mir ein wenig Sorgen, denn auf dem Schiff lief noch ein weiteres Problem für die Verhandlungen herum: Es war Kuchel. Wie würde mein Vater reagieren, wenn er sie entdecken würde? Und was müsste ich sagen, um ihn dennoch von der nötigen Unterstützung zu überzeugen?

Meine Hände wurden feucht, sodass ich sie an meinen Rock energisch abwischte. Diese Situation entwickelte sich nicht gerade so, wie ich es mir erhofft hatte. Vielleicht war es die Strafe des Schicksals, die mich nun einholte, um mir zu zeigen, dass ich zu meinem Gefährten und meiner Tochter stehen musste, egal was für Konsequenzen dies mit sich bringen würde. Vielleicht auch nur ein dummer Zufall. Ich wusste es nicht und dennoch – am Ende musste ich dies akzeptieren, so wie mein Vater meine Entscheidungen und mein Leben akzeptieren müsste. Und wie er auch ihn akzeptieren müsste: Diesen Mann, der mir erwartungsvoll folgte.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now