77. Unzählige Verluste

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Ich ritt über die Ebene, die sich zwischen den beiden inneren Mauern erstreckte. Der kalte Wind wehte durch mein Haar und ließ dabei unzählige Blätter um mich herumtanzen, so als würden sie mir zum Trost eine Chorographie aufführen. Verzaubert starrte ich sie an und begann meinen Geist im Licht der vielen Farben zu verlieren. Gelb, wie die Sonne, die mich zu wärmen schien. Braun, wie die Erde, die um mich herumwirbelte, und rot, wie das Blut, welches in mir pulsierte. Nichts als diese Farben nahm ich noch wahr. Nichts als diesen Zauber. Die Zeit schien für mich stehen zu bleiben. Tausende Fragen drückten sich durch meinen Kopf, doch mein Geist war leer. Tief in mir war diese Verwirrung, die mich immer noch fest in ihren Händen hielt und selbst jetzt bei diesem Farbspiel nicht entspannen ließ. Sie hielt mir meine Augen und Ohren zu, um mich orientierungslos zu machen. Sie rührte in meinem Kopf, um meine Gefühle zu vermischen und mich nicht mehr klar denken zu lassen. Doch seit wann fühlte ich so? Seit wann hatte ich mich so schlecht unter Kontrolle? Ich wusste es nicht. Am Horizont entdeckte ich die Tore von Mitras. Sie wurden von der langsam untergehenden Sonne in ein goldenes Licht getaucht. Ich lächelte. In diesem Licht wirkte die Stadt wie ein friedlicher Ort ohne Leid und Sorgen. Eilig ritt ich durch das Tor und wurde dabei von einigen Soldaten begrüßt, indem sie mir freundlich zuwanken. Auch hier in Mitras musste die freudige Botschaft über die Eroberung der Mauer Maria angekommen sein, denn die Menschen lächelten, sobald sie die Flügel der Freiheit auf meinem Mantel entdeckten. Es tat gut und dennoch wünschte ich mir, dass sie sich all den Opfern mehr bewusstwurden. Dass sie nicht lächeln, sondern nachfragen würden. Dass sie den Toten die Ehre erweisen und ihnen gedenken würden. Ich seufzte. Wann wollte dieses Volk endlich erkennen, was der Aufklärungstrupp für sie getan hatte? Wann wirklich hinter ihnen stehen und so die noch übriggebliebenen Soldaten unterstützen? Ich dachte an die Verabschiedung in Trost. Diese Zurufe und das Jubeln der Menschen hatten unsere Soldaten motiviert. Es war genau das, was sie sich immer gewünscht hatten. Es war der Grund für ihren Einsatz geworden und sie brauchten mehr davon, wenn sie jetzt weiter machen mussten – viel mehr.

Ich betrat den Stall der Kaserne und gab Wolke dort in einer Box ab, um das Militärgebäude zu betreten.
„Wenn Levi irgendwo ist, dann hier" dachte ich mir und schritt über den Flur zum Bereich der Zimmer, welche einerseits für einfach Soldaten mietbar waren und andererseits für höherrangige Personen dauerhaft zur Verfügung gestellt wurden. Eine junge Frau kam mir entgegen. Sie starrte auf das Symbol auf meiner Brust.
„Ihr seid vom Aufklärungstrupp..." sagte sie und ließ ihren Kopf hängen. Ich nickte. „Ein Freund von mir war bei eurer letzten Mission dabei.... Wisst ihr, wo sie die Toten hingebracht haben?" Unsicher fasste sich die Frau mit einer Hand am Ellenbogen und stand ein wenig gebückt da. Ein Seufzen entglitt mir.
„Einige wurden nach Trost gebracht, andere nach Ehrmich. Von dort aus wird versucht, sie in die richtigen Städte zu bringen, um sie ihren Familien zur Beisetzung zu übergeben. Sagt mir seinen Namen, dann kann ich den Hauptgefreiten fragen, ob er weiß, wo sich die Leiche befindet." schlug ich vor.
 „Mario Freudenberg...."
Ich schluckte schwerfällig. Dieser Name sagte mir überhaupt nichts. Wahrscheinlich war er einer dieser Männer gewesen, die als frische Rekruten in den Tod geritten waren. Einer dieser Soldaten, die vor Angst geschrien und trotzdem sich diesem Schicksal gefügt hatten.
„Er war sehr tapfer bei der Mission...." flüsterte ich schon fast. Die Augen der Frau weiteten sich. Sie sah zu den Fenstern, die dem Licht des Sonnenuntergangs Einkehr gewährten.
„Das war er bestimmt." seufzte sie.
„Wo kann ich euch finden, wenn ich herausgefunden habe, wohin sie seine Leiche transportieren?" fragte ich die junge Frau.
„Ich bewache meist den Weiblichen Titan."
„In Ordnung. Dann werde ich auf euch zukommen." verabschiedete ich mich und klopfte dabei auf ihre schmale Schulter. Ich schritt weiter und fragte mich, wie nah sich diese Beiden gewesen waren. Wie viel Schmerz trug diese Frau nun in sich? Wann würde sie ihn hinter sich lassen können? Mein Herz fühlte sich wie ein Stein in meiner Brust an. Wie lange bräuchte ich, um den Verlust meiner Freunde verarbeitet zu haben und wie lange würde ich brauchen, wenn es Levi einmal treffen würde?
Monate?
Jahre?
Jahrzehnte?
Darauf konnte ich keine Antwort finden, doch als ich seine Zimmertür öffnete und er nackt mit einem Handtuch in der Hand vor mir stand und erschrocken aufblickte, war ich mir sicher, dass ich es niemals herausfinden wollte. Ich wollte diesen Körper nicht leblos sehen, wollte niemals in die Leere seiner toten Augen blicken. Eilig schlug ich die Tür hinter mit zu, zog meinen Mantel aus und schritt auf ihn zu, um ihn zu ergreifen.
„Was machst du hier?" fragte er, als ich uns auf das Bett drückte und seinen Kopf gegen meine Brust presste. Levi sah kurz auf, doch dann umschlang auch er mich und hielt inne. Er genoss sie wie ich – diese Stille zwischen uns. Sein Atem – ich spürte wie er den Stoff meines Pullovers erwärmte. Doch da war noch etwas anderes - dort wo er sein Gesicht in den Stoff drückte. Ich schluckte schwerfällig und strich über seinen Kopf hinweg.
„Wei..." Meine Frage blieb mir im Hals stecken. Ich musste es nicht sagen, denn ich wusste es bereits: Es waren Tränen, die er vergoss. Tränen des Verlustes. Behäbig atmete ich tief ein und ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Mehr als da sein, konnte ich in diesem Moment für ihn nicht, doch vielleicht war es genau das, was er brauchte. Müde werdend spielte ich mit seinem nassen Haar. Es duftete seifig – fast schon zu intensiv – und quietschte ganz leicht, als ich eine Strähne zwischen meinen Fingern und Daumen rieb.
„Was machst du da schon wieder?" stöhnte Levi und sah zu mir. Vorsichtig strich ich sein Haar aus dem Gesicht, in dem seine Niedergeschlagenheit durch seine tiefen Augenringe eingezeichnet war. Wie wenig hatte er in den letzten Tagen wohl geschlafen? Hatte er es überhaupt getan? Selbst jetzt schien er diesen Punkt des Einschlafens nicht erreichen zu können. Selbst jetzt zeigten seine Augen keine Müdigkeit. Die Ruhe- er konnte sie wahrscheinlich nicht zulassen. Ich seufzte und strich mit meinen Fingern an seine Wange entlang.
„Wie fühlst du dich?" fragte ich leise, als ich seinen Hals berührte und dann leicht in seinen Nacken griff. Levis Augen weiteten sich, doch dann wich er meinen Blick aus.
„Als hätte ich meine Orientierung verloren....." Er stöhnte genervt, „Erwin war wie ein Punkt am Horizon, der mir zeigte, wohin ich gehen musste. Jetzt wo er beerdigt ist, kann ich nur noch an den scheiß Affenarsch und mein Versagen denken..." Ich spürte das Beben seines Körpers. Sein Atem war langsam und dennoch schien das Herz in seiner Brust zu rasen.
„Du hast nicht versagt. Wie viele Titanen hast du in der Mission getötet, Levi? Ohne dich wäre keiner von uns zurückgekehrt..." Levi senkte seinen Blick. „Ich wünschte, ich könnte dir mehr helfen..." seufzte ich heraus.
„Es ist in Ordnung, -dN-."
„Nein, ist es nicht. Ich bin selbst ständig durcheinander, obwohl ich dir jetzt eine Stütze sein müsste."
„So lange du nicht wieder wegrennst, bist du das..." Levi zog sich zu mir hoch und strich mir über die Wange.
„Aber nicht so wie Erwin es für dich war...."
„Willst du das wirklich sein? Eine Person, der ich wie ein Vollidiot überall hin folge. Weißt du, wie oft ich mich gefragt habe, warum ich den ganzen Scheiß mache? Wie oft ich mich gefragt habe, was Erwin mir bedeutet? Warum es grade er war, von dem ich mich angezogen fühlte? Als ich dann von dir erfuhr, dass mein Blut der Grund dafür ist, konnte ich es endlich akzeptieren und gleichzeitig erkennen, was dich von ihm unterscheidet..." Mein Herz kribbelte.
„Was denn?" rief ich schon fast aus. Levi lächelte ein wenig.
„Du stellst zu viele Fragen." „Aber ich will es wissen!" „Denk doch mal selbst nach!" schimpfte der Gefreite und entriss sich meiner Umarmung, um aufzustehen. Er zog sich an und sah dann zu mir zurück.
„Warum bist du jetzt eigentlich hier?"
„Hanji hat mir befohlen, dir mitzuteilen, dass wir uns drei freie Tage nehmen sollen." erklärte ich.
„Und was sollen wir die ganze Zeit machen?" Ich dachte nach und wurde rot.
„Vergiss es! Ich habe mich grade erst angezogen." zischte Levi. Ich lachte kurz auf.
„Dann lass uns doch Mona besuchen!" schlug ich vor und warf dann ein: „Ach, weißt du eigentlich, wohin die Leiche eines Mario Freudenberg hingebracht wurde?" Levis Augen weiteten sich. Er verschränkte die Arme und hielt kurz inne.
„Das war einer dieser Rekruten von der Militärpolizei, oder?" Ich nickte. „Dann müssten wir ihn über Trost nach Mitras bringen. Warum fragst du?"
„Eine junge Frau hat mich nach ihm gefragt..." Der Gefreite senkte seinen Blick und seufzte. Langsam ging er zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Ich setzte ich mich auf und sah neugierig herein. Sie war vollkommen überfüllt von Abzeichen des Aufklärungstrupps.
„Was ist das alles?" Ein Schauer überkam mich gemeinsam mit einer Vorahnung.
„Die Abzeichen derjenigen, die im Kampf gefallen sind." erklärte er und griff hinein. „Ich weiß nicht, welches seines ist, aber am Ende ist es egal. Irgendeines dieser wird es sein." Levi hielt einen der Aufnäher in seiner Hand und starrte ihn an. Ich presste meine Lippen zusammen und stand auf, um die Schublade näher zu betrachten.
„Wie viele sind das?" fragte ich.
„So viele wie starben, seitdem ich beim Aufklärungstrupp bin. Ich zähle sie nicht, -dN-. Das zu tun, würde nichts ändern." Unsicher wollte ich an den Verband meines Fingers greifen und bemerkte dabei, dass er fehlte. Der Gefreite schloss die Schublade und reichte mir das Abzeichen. „Das kannst du ihr geben." Ich nahm es entgegen und steckte es in meine Hosentasche. „Das werde ich..." meinte ich nur und blickte ein weiteres Mal zu der Schublade. Dieser Anblick – er hatte sich in mir eingebrannt. Auch wenn Levi sie nicht zählte, musste er wissen, wie viele es ungefähr sein mussten. Doch anscheint verdrängte er es oder wollte es mir nicht sagen.
„Lass uns was essen gehen! Wir können morgen nach Stohess reiten und Mona besuchen." schlug er nun vor und hob meinen Mantel auf, um ihn mir zu reichen. Ich nickte und lächelte. Auch wenn ich diese Schublade niemals mehr vergessen würde, musste ich weiter voranschreiten. Für mich. Für ihn. Für alle, die wir verloren hatte.

Grenzen vergessen Levi x ReaderOnde histórias criam vida. Descubra agora