59. Der letzte Abend vor der Tragödie

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„Wie war die Mission?" wandte ich mich an Levi, der sich nun zu mir setzte.
„Eren scheint es weitergeholfen zu haben. Der Rest ist wohl unwichtig..." Levi lehnte sich an die Stuhllehne und sah mich eindringlich an. „Wir werden morgen nach Trost reiten und die Mission von dort aus am folgenden Tag starten." Mein Mund wurde trocken. Ich schluckte schwerfällig.
„Jetzt schon?" Levi nickte. Ich seufzte. Die letzten Wochen waren eine angenehme Ruhe im Gegensatz zu den Strapazen, die hinter uns lagen, gewesen. Ich hatte mich schon fast an diese Art des Lebens gewöhnt und ich wünschte mir, dass es noch länger angehalten hätte. Doch nun war es so weit. Vorbereitungen mussten getroffen und Gespräche geführt werden. Für unsere Leidenschaft war nun keine Zeit mehr – das wussten wir Beide. „Ich werde mit meinem Trupp sprechen und mit ihnen nötige Vorkehrungen treffen. Haben wir heute noch ein Treffen mit Erwin?"
„Nein, ich werde die Meisten informieren. Alles weitere erfolgt dann in Trost."
„Gut, dann so....." Levi und ich standen auf. Wir verließen gemeinsam den Speisesaal, doch dann trennten sich unsere Wege. In meinem Bauch breitete sich ein enormer Druck aus. Eine leichte Übelkeit stieg in mir auf. Was nun folgte, war nichts Gutes – dem war ich mir sicher.

In Trost angekommen, bezogen wir in einn großes Gasthaus und hielten im Speisesaal eine Art Fest ab. Erwin hatte Fleisch organisiert, um die Moral der Soldaten zu steigern. Die Freude darüber war riesig. Viele von ihnen konnten sich nur selten ein Stück dieses wertvollen Gutes leisten. Ich saß mit Jens, Bastian und Auruo am Tisch. Auch diese Drei waren begeistert und langten ordentlich zu, während ich an meinem Brot knabberte und Abstand zum Braten hielt. Der Geruch war unangenehm.
„-dN-, nimm ein Stück! Es ist so saftig." rief Jens aus und zeigte mit seiner Gabel zum Braten, der auf unserem Tisch mittig platziert stand. Ich lächelte.
„Nein, schon gut. Esst ihr mal! Mir schlagen die ganzen Umstände schon seit Tagen auf den Magen." erklärte ich und biss in mein Brot. Es war frisch – ganz warm und fluffig.
„Sag, -dN-. Warum hast du uns nicht von deiner Herkunft erzählt? Wir sind dein Trupp." warf Auruo plötzlich ein. Er sah mich erbost an.
„Entschuldigt.... Die Geheimhaltung wurde von Erwin festgelegt und um ehrlich zu sein, war es für mich angenehm, nicht darüber sprechen zu müssen. Ich dachte, es könnte euer Vertrauen brechen oder unsere Freundschaft zerstören...." Eine Hand klopfte auf meine Schulter. Bastian, der neben mir saß, blickte mich an und lächelte.
„Du bleibst unsere Truppenführerin, egal woher du kommst." meinte er. Meine Augen weiteten sich. Grade von ihm hatte ich eine solch ehrliche Aussage nicht erwartet. Doch ich erinnerte mich daran, wie er sich mir nach seinem Fehlverhalten anvertraut hatte. Immer dann, wenn es drauf ankam, sprach er und er fand jedes Mal die richtigen Worte, um eine Situation zu lösen. Ich grinste ihn an.
„Danke, Bastian." rief ich aus. In meiner Brust breitete sich eine Wärme aus. Seine Worte hatten mich glücklich gemacht.
Doch plötzlich brach eine Unruhe im hinteren Teil des Saales aus. Ich schrak auf und erblickte Eren und Jean. Sie schlugen einander.
„Verdammt..." Energisch sprang ich auf und begab mich zu ihnen. Der heutige Tag sollte den Zusammenhalt der Soldaten steigern und keinen Zwist zwischen ihnen fördern.
„Ich werde es mir merken!" schrie Eren und schlug ein weiteres Mal in den Magen seines Kontrahenten. Die Männer und Frauen des Trupps versammelten sich um die zwei Jugendlichen. Genervt drang ich mich hindurch.
„Könnte mal wer eingreifen!" schrie ich und quetschte mich wütend durch die erste Reihe. „Wie ich Schaulustige nicht ausstehen kann...." dachte ich und schob einen Soldaten energisch zur Seite. Doch dann entdeckte ich Levi. Er trat Eren mit einem gezielten Tritt in den Bauch und schaltete ihn aus. Dann wandte er sich Jean zu und brachte auch ihn innerhalb von Sekunden zu Boden. Ich blickte erstaunt zu den beiden Am-Boden-Liegenden. Persönlich hätte ich die Situation anders gelöst, aber zumindest war nun Ruhe.
„Ihr lasst euch viel zu sehr gehen! Geht schlafen! Und macht hier sauber!" befahl Levi und ging. Ich blickte ihm nach und biss mir auf die Unterlippe. Unsicher fasste ich an meinen Gurt und ertastete meinen Dolch. Es war vielleicht mein letzter Abend. Vielleicht die letzte Möglichkeit bei ihm zu sein. Ich seufzte. Wenn ich ihm nicht folgen würde, würde ich es im Moment meines Todes bereuen – dem war ich mir sicher. Also folgte ich ihm.

Levi saß im Stall, welcher an das Gasthaus angebaut war und lehnte am Eingangstor. Sein schwarzer Pullover fiel locker an ihm entlang. Der V-Ausschnitt betonte seine Brustmuskulatur. Seine helle Haut und der dunkle Stoff - es war ein Spiel aus Kontrasten.
„Le.." Ich brach meinen Satz ab, als ich bemerkte, dass hinter dem Tor Stimmen zu hören waren. Es waren Eren, Mikasa und Armin. Sie unterhielten sich. Ihr Tonfall klang ernst und dennoch hoffnungsvoll. Levi lauschte ihnen und sah auf den Boden. Dieser Anblick – er wirkte wie ein verlassener Mann. Die Einsamkeit in seinen Augen schmerzte mich. Die Sehnsucht ihn zu berühren, ihn in meinen Armen zu halten, stiegt in mir auf. Unsicher ging ich einige Schritte auf ihn zu, um vor ihm zu hocken. Ich berührte seine Wange. Er blickte auf.
„Also als erstes werden wir uns das Meer ansehen. Bis zum Horizont nur Salzwasser – es gibt sogar Fische, die nur dort leben. Truppenführerin -dN- hat zudem von riesigen Fischen erzählt, die wie wir Luft atmen und so groß wie ein Titan sein können!" erzählte Armin. Seine stimme sprang vor Aufregung in die verschiedensten Tonlagen. Ich musste lächeln. Er konnte sich so wundervoll für Dinge begeistern.
Levi sah mich verwundert an. Seine Augen strahlten immer noch Traurigkeit aus. Wahrscheinlich befürchtete er das Schlimmste – den Verlust vieler unserer Leute – vielleicht seines eigenen Trupps. Den Tod dieser Jugendlichen, die noch so viel vor sich hatten und so viel erleben wollten. Ich strich meinen Daumen über seine Nase und seine Wangenknochen. Seine Hand packte meinen Kopf und er zog mich an sich heran. Wir küssten uns.
„Versprochen, okay?" hörte ich Armin zu seinen Freunden sagen.
Versprechen – diese Dinge, die man sich sagt, um sich zu vergewissern, dass etwas eintreffen wird. Es sind diese Sätze, die einem Hoffnung schenken sollen. Diese Sätze, die wir sagen, um dem anderen Mut zu machen – ihnen einen Sinn zu geben. Dennoch – am Ende sind sie nur leere Floskeln, die aus Ignoranz gegenüber all dem Schrecklichen dieser Welt entstehen. Sie sind Lügen, die wir aussprechen, um zu vergessen. Auch Levi und ich hatten versucht, alles um uns herum zu vergessen. Doch der Tag würde kommen, an welchem die Wirklichkeit uns einholen würde. Ich drückte meinen Körper an ihn, um diese Wirklichkeit zu verdrängen. Ich stieß meine Zunge in seinen Mund, um unsere Lüge ein wenig länger aufrecht zu halten. Doch plötzlich spürte ich eine Übelkeit in mir und löste mich panisch von seinen Lippen. Levis Augen weiteten sich. Er beobachtete, wie ich meine Hand vor meinen Mund hielt und tief durchatmete. Unsicher ließ ich mich zurückfallen und saß ihm im Schneidersitz gegenüber.
„Sag mal, -dN-, kann es sein, dass du....."
„Gefreiter Levi! Entschuldigen sie die Störung. Der Kommandant verlangt nach ihnen!" Jens stand hinter uns. Levi und ich blickten ihn erschrocken an. Mein Truppenmitglied schien nervös – er wusste also Bescheid.
„Scheiße..... Ich werde sofort zu ihm gehen." sagte Levi und stand bereits auf. Er sah mich eindringlich an, wandte sich dann jedoch ab. Auch ich stand auf und blickte zu Jens.
„Du und der Gefreite seid ein Paar?" fragte dieser, als Levi im Haus verschwunden war. Ich nickte zurückhaltend. „Wie lange schon?"
„Ähm, das ist schwierig zu sagen....." stotterte ich und fummelte an meiner Hand. Jens lächelte zurückhaltend.
„Ich hätte euch ganz anders eingeschätzt. Ich meine, ihr seid selbst so offen und herzlich...." Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, Jens. Ich bin nicht herzlich. Ich bin egoistisch.... Wahrscheinlich wirke ich einfach nur nett, weil ich viel rede und hier und da anderen helfe. Aber am Ende will ich einfach nur das durchsetzen, was ich für Richtig halte....Und dann ist mir alles egal......" Ich seufzte. „Ich wollte ihn und ich zwang mich ihm auf. Ich liebte ihn und verletzte ihn, nur um dann wieder angekrochen zu kommen..... Ich tue ihm das alles an, weil ich es unbedingt will. Der Gefreite ist der, der immer Rücksicht nimmt. Er folgt denjenigen, die vorausrennen. Er stellt seine Gefühle in den Hintergrund. Also wenn du jemanden als herzlich bezeichnest willst, dann lieber ihn als mich." Jens starrte mich an. Er war überrascht von meinen Worten – vielleicht auch geschockt. Doch ich sprach nur das aus, was ich in den letzten Tagen schmerzlich erkannt hatte. Levi hatte Recht gehabt, ich war ein Miststück.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt