129. Schwere Entscheidungen trifft man allein

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„Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?" rief Levi aus, als wir uns in unser Zimmer zurückgezogen hatten, um die Sache zu klären. Ich sah unsicher in seine Augen, fummelte am Nagel meines kleinen Fingers und wich dann seinem Blick aus, den ich kaum mehr ertragen konnte. Es war der Hass in ihm, der mir entgegensprang – Hass und eine gewisse Abscheu. Ich hatte eine Grenze überschritten. Sie vielleicht sogar übersprungen und mich dabei weit aus dem Fenster gelehnt, indem ich vorschlug unsere Tochter in Linas Obhut zu geben, damit sie gemeinsam in meiner Heimat Schutz suchen konnten.

Auch wenn ich es gut meinte. Auch wenn ich selbst überzeugt davon war, dass dies im jetzigen Moment die richtige Entscheidung war, ich wusste genauso gut, dass er Lina nicht vertraute. Er kannte sie kaum, hatte im Endeffekt nur ihre arrogante Art und ihre Flucht mitbekommen, sodass er sich niemals ein Bild von ihrer Person machen konnte. Dennoch war er sich seiner Meinung sicher, genauso wie ich von meiner Idee überzeugt war, denn ich sah nur diesen einen Weg, sicherzugehen, dass Kuchel nichts geschehen würde.

„Levi, hör zu..."
„Deinen Scheiß kannst du für dich behalten!" Levi drehte sich weg. Bereits jetzt machte er dicht. Für ihn war das Gespräch wohl mehr als sinnlos, doch ich verlangte, dass er mich anhören würde. Ich wollte ihn von meinem Weg überzeugen, ihn irgendwie zur Vernunft bringen oder ihn gar bitten. Doch seine Sturheit ließ meinen Puls in die Höhe steigen. Ich spürte es förmlich an meiner Stirn pochen, merkte selbst, dass meine Gedanken zu rasen begannen, ohne dass ich es wirklich kontrollieren konnte.
„Es geht nicht um dich! Es geht um Kuchel!" ,schrie ich ihn nun an, damit er endlich aufhören würde, mich zu ignorieren.

Ja, die Wut türmte sich bereits in mir auf. Es kribbelte in meinen Fingern. Das Thema war mir wichtiger als alles andere. Wichtiger als er, ich oder unser gemeinsames Sein. Es ging um sie: Unsere Tochter. Wie konnte er sich nur so quer stellen, ohne einmal wirklich darüber nachzudenken? Wie sie in solch eine Gefahr bringen? Keiner von uns konnte doch einschätzen, was in den nächsten zwei Tagen in dieser Stadt geschehen würde. Keiner dieses Mädchen beschützen, ohne das Risiko einzugehen, dass sie verletzt oder gar getötet werden würde.

Mein Herz schrie bei diesem Gedanken. Es schlug immer lauter in meiner Brust, so als wollte es Levis Aufmerksamkeit erlangen, nur um ihm zu zeigen, wie ernst es mir mit diesem Thema war.
„Du hast gehört, was das Miststück gesagt hat, -dN-. Lässt du dich immer noch von ihr beeinflussen?" ,warf er mir nun vor, ohne wirklich auf meinen Vorschlag einzugehen. Ich schluckte schwerfällig. Wir redeten bereits jetzt aneinander vorbei. Mehr als diese Vorwürfe, die wir uns nun entgegenwarfen, gab es auf einmal nicht mehr zwischen uns. So als könnten wir nur in eine Richtung blicken, starrten wir einander an – fast schon drohend.

„Für wie blöd hältst du mich? Was für ein Vater bist du, das Leben deiner Tochter so aufs Spiel zu setzen? Wie kannst du..."

Es war ein Knall der plötzlich durch meinen Kopf hallte. Ich war kurz benebelt, spürte nur diesen Schmerz an meinem Rücken und Hinterkopf, während ich in diese wütenden Augen sah. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, was geschehen war. Alles ging viel zu schnell.

Levi drückte mich noch immer an die Wand, indem er meine Schultern fixierte. Sein Hass sprang mir entgegen. Ich hatte ihn getroffen – anscheint sehr tief – und er hatte die Kontrolle verloren. Irgendwie musste er mich mit voller Wucht gegen die Wand gedrückt haben, ohne auch nur den Hauch von Rücksicht zu nehmen. Das verriet mir das Dröhnen in meinem Hirn, welches immer noch ein wenig Mühe hatte, meine Gedanken zu ordnen.

Doch es kreischte bereits in mir.

Nichts konnte mich mehr kränken, als der Bruch meines Stolzes. Das Gefühl nicht respektiert, sondern unterdrückt zu werden – körperlich. Meine Hände ballten sich krampfhaft zu Fäusten. In meinem Mund sammelte sich die Spucke. Ich hatte das Gefühl, dass ich rot zu sehen begann, während ich mich zu befreien versuchte, bis ich seine sich weitenden Augen entdeckte.

„Scheiße..." ,zischte er. Levi erkannte es plötzlich selbst. Erkannte, dass wir uns bereits in einem Kampf befanden – jegliche Akzeptanz oder gar Liebe verdrängt, um dem anderen weh tun können. Ich beobachtete ihn, wie er Abstand suchte, sich durchs Haar fuhr und dabei nicht ein einziges Mal zu mir sah. Ob nun aus Angst wieder aufzubrausen oder weil er sich selbst nicht ertrug, wusste ich nicht. Doch es war mir egal. Er hatte etwas getan, was ich nicht erdulden konnte.

„Du kannst mich mal!" ,meinte ich nur. Ich griff nach irgendwelchen Sachen unserer Tochter und verließ das Zimmer. Nicht einen kurzen Moment mehr sah ich zurück. Nicht ein einziges Wort schenkte ich ihm noch. Denn in meinem Kopf gab es nur noch einen Gedanken, der zunächst flüsternd, doch mittlerweile schreiend in mir herrschte:

„Es ist vorbei..."

Mein Herz drückte sich zusammen. Es schmerzte tief in mir – an einer Stelle, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Auch wenn mein Puls noch raste. Auch wenn ich noch immer hasste. Die Erkenntnis darüber, was gerade geschehen war, kam langsam immer näher und kündigte bereits jene Gefühle an, die sich auf mich niederlassen wollten. Ich würde nicht lange haben, bis ich zu weinen beginnen würde. Also beeilte ich mich, nutzte das letzte bisschen Wut in mir und schritt zu Lina. Sie saß allein an einem Fenster in der Stube.

„Nimm sie mit dir!" ,sagte ich, als ich vor ihr stand. Meine Hände schmerzten bereits von dem Zusammendrücken meines eigenen Fleisches. Lina sah auf. Sie erkannte, dass etwas nicht stimmte.
„Willst du reden?"
„Nein."

Meine Vertraute stimmte zu.
„In Ordnung. Ich breche gleich zum Hafen auf und werde dort bereits an Bord gehen. Soll ich nur die paar Sachen mitnehmen?" Lina zeigte auf die Dinge, in meinem Arm. Ich nickte.
„Und einen Zettel, warte!"
Eilig suchte ich nach einem Blatt Papier und einem Stift. Ich griff nach irgendetwas, was brauchbar schien und schrieb mit zittriger Hand:


Vater,
wenn du das liest, befindet sich Paradies erneut im Krieg. Einem Krieg, den wir nicht verhindern konnten.
Wenn du uns helfen willst, dann bald! Tue das, was du für richtig hältst! Auch ich habe meine Entscheidung getroffen.

Deine Tochter

Energisch faltete ich den Zettel, um ihn Lina mit samt des Wäschebündels in den Arm zu drücken.
„Gib den Brief meinem Vater! Und enttäusch mich nicht!" ,meinte ich, während wir uns auf den Weg zu Kuchel machten.

Im Gegensatz zu meiner Erwartung war Levi nicht in der Küche, in der unsere Tochter gerade mit Sasha eine Kleinigkeit aß. Kuchel hatte schnell erkannt, dass man bei der jungen Frau oft etwas Leckeres abgreifen konnte und mochte sie daher ganz gerne. Ich nickte Sasha zu und bat sie den Raum zu verlassen. Eine Bitte, welcher sie ohne großes Nachfragen nachging.

Kuchel sah auf, lächelte kurz, um sich dann doch lieber ihrem Grießbrei zu widmen. Wie immer schmeckte ihr die Süßspeise vorzüglich.

Langsam hockte ich mich neben meiner Tochter und strich ihr durchs Haar. Warum musste sie mich damit an ihn erinnern? Warum machte sie mir damit ein schlechtes Gewissen? Energisch presste ich meine Lippen zusammen und atmete tief durch die Nase ein, um alle Zweifel zu verdrängen. Meine Gefühle mussten bedeutungslos sein. Alles, was nun zählte, war ihre Sicherheit – egal was es zwischen mir und Levi zerstören würde.

„Kuchel, du wirst heute Tante Lina begleiten! Sie wird mit dir dorthin fahren, wo dein Opa lebt" ,erklärte ich meiner Tochter. Sie schaute mir neugierig an. „Ich werde dich dann später dort abholen, in Ordnung?"
„Kommt Papa?" ,fragte mich Kuchel nun. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, wir müssen mal wieder arbeiten. Aber wir werden dich ganz bald wieder abholen... Und wenn wir das machen, dann fahren wir wieder Karussell, ja?"

Das Wort wirkte. Kuchels skeptischer Blick wurde von dem Leuchten ihrer Augen verschluckt. Besonders das Karussell schien ihr bei unserem letzten Besuch in meiner Heimat im Gedächtnis geblieben zu sein und ich hatte es glücklicherweise als Argument erwählt. Wenigstens etwas schien heute gut zu laufen.

„Ich denke, wir können bestimmt auch ein anderes besuchen. Ich kenne in der Nähe meines Hauses auch einen Ort, wo ein Karussell steht" ,warf Lina nun ein. Sie stellte sich nun neben mir, um Kuchel die Hand zu reichen. „Aber wir müssen dann jetzt los, Kuchel. Das Schiff wartet nicht ewig auf uns..."

Kuchel sah fragend zu mir, doch griff letztendlich nach der ihr angebotenen Hand, nachdem sie mein Nicken entdeckt hatte. Ich packte ihren Kopf mit meinen Händen, presste ihr einen letzten Kuss auf die Stirn, nur um dabei meine ersten Tränen zu spüren, die sich bereits auf ihren Weg machten.
„Du kannst immer noch mit uns kommen, -dN-!" ,sagte Lina nun. Ihre Stimme wirkte fordernd.
„Geht jetzt! Und pass auf sie auf, Lina!" ,sagte ich, ohne nochmals aufzusehen.
„Ich bedauere deine Entscheidung, aber... Pass auch du auf dich auf, -dN-. Hier, kannst du besser als ich gebrauchen."

Lina legte ihre Zigarillopackung und ein Feuerzeug auf dem Küchentisch ab. Sie hielt kurz inne, kam mit ihrer Hand ein wenig näher, nur um sie dann doch wegzuziehen und zu gehen. Sie verließ den Raum. Sie und Kuchel. Meine Tochter. Mein kleines Mädchen. Sie konnte sich noch nicht einmal von ihrem Vater verabschieden, aber so war meine Entscheidung gefallen. Entschlossen und kompromisslos. Ohne Rücksicht auf sie oder ihn. Ohne Rücksicht auf uns.

Abschied – dies war also der Moment, der mich förmlich zu zerreißen schien. Ich bleib zurück und fühlte mich plötzlich allein. Die Frage, warum ich Linas Forderung nicht nachgegangen war, drängte sich in mir auf, doch ich wusste selbst, dass ich zu einem Verrat gegenüber den Menschen aus Paradies nicht im Stande war. Zumindest nicht gegenüber all meinen Kameraden, denen ich nun seit Jahren den Rücken freihielt oder die ich mit all meinem Können unterstützte. Wie hatte es Hanji gestern gesagt: Ich war bereits eine von ihnen, egal ob durch mein Blut oder meinen Geist. Auch das Aus zwischen mir und Levi änderte daran nichts – es änderte nichts. Jedenfalls nicht für den Moment.

Doch trotzdem hockte ich nun in dieser Küche zusammengekauert, umschlang meine Beine und drückte mich dabei fest zusammen, so als wollte ich mich dabei selbst zerquetschen. Ich heulte. Tief aus mir heraus, drückten sich all die Gefühle durch mich hindurch, die ich teilweise nicht zu verstehen vermochte. Die ich vielleicht auch nicht erkennen wollte, denn ich musste verhindern daran zu zerbrechen, ging es um nicht viel weniger als darum, im nächsten Augenblick wieder aufstehen zu können - kämpfen zu können, um meinen Kameraden zu helfen.

Eilig wischte ich mit meinem Ärmel durch mein Gesicht, bis dieser schon ganz nass war. Tief durchatmend, meine Trauer hinunterschluckend, fand ich irgendwo in mir einen Hauch von Ruhe. Da war es also – dieses brüchige Floß, auf welchem ich die See meines Schmerzes überfahren würde, um irgendwie das nächste Ufer zu erreichen. Ich würde es tun. Ich würde weitermachen, ohne auch nur zurückzublicken. Würde es ertragen, ohne dabei einzuknicken und würde kämpfen, bis nichts mehr von mir übrig wäre. So wie Petra. So wie Gunther. So wie Jens, Basti und Auruo. So wie sie alle, die für uns und auch für mich gestorben waren.

Wehmütig lächelte ich, während ich langsam aufstand. Der Gedanke an sie gab mir Kraft. Er gab mir den Grund, nicht aufzugeben und mein eigenes Schicksal zu ertragen, denn immerhin war ich noch hier. Ich war noch da.

Ich war noch am Leben. 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now