71. Eine bittere Entscheidung

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Es war schon dunkel als ich das Gasthaus betrat und meine Kameraden an einem großen Tisch entdeckte. Anscheint hatten sie zwei Tische zusammengestellt, um uns allen das gemeinsame Zusammensitzen zu ermöglichen. Ich trat an die gedeckte Tafel heran, an dessen Ende Hanji saß. Sie wank mich zu sich. Einige Töpfe mit Kürbissuppe und Brot waren aufgetischt. Mikasa, Eren und Armin sowie der junge Mann, den sie Flocke nannten, aßen bereits. Seufzend zog ich meinen Mantel aus, welchen ich über den Stuhl hing, und setzte mich neben die neue Kommandantin.
„Wo sind Levi und die Anderen?" fragte ich, während ich mir etwas Suppe auftat. Ich schnupperte. Das Essen duftete unglaublich frisch und beinah süßlich. Schon jetzt lief mir das Wasser im Mund zusammen.
„Ich glaube, sie besuchen Sasha. Die Arme muss das Krankenhausessen ertragen." meinte Hanji und biss energisch in ihre Scheibe Brot. Dies beobachtend musterte ich sie. Ihr rechtes Auge war seit der gestrigen Mission verbunden.
„Was ist mit deinem Auge passiert?" meinte ich. Hanji sah überrascht auf und lächelte ein wenig.
„Tja, das wird nicht mehr zu retten sein...." Die Braunhaarige zuckte mit den Schultern. Sie wirkte weder besorgt noch traurig, doch ich fragte mich, ob sie die ganze Situation nur überspielte, um uns alle vor einer tiefdepressiven Stimmung zu schützen.
„Sie wird als Kommandantin anders sein...." dachte ich und pustete auf meinen Teller. Ich war mir sicher, dass nun eine neue Ära des Aufklärungstrupps beginnen würde. Eine Ära, die uns auf eine neue Art und Weise voranbringen würde. Vorsichtiger, bedachter und menschlicher. Hanji grinste mich an.
„Und wie geht es dir?" scherzte sie schon fast, als die Tür des Gasthauses sich öffnete. Levi kam zusammen mit Jean und Connie in den Speisesaal. Der Gefreite trat an die Theke, während die Jugendlichen sich neben mir auf einen Stuhl niederließen und gierig nach dem Brot griffen. Ich blickte sie verwundert an.
„Habe ich einen Kohldampf." rief Connie aus und stopfte sich das erste Stück in den Mund.
„Habt ihr mal wieder keine Manieren? Bewegt euch mit euren Allerwertesten einen Platz weiter!" schimpfte Levi. Er stand mit verschränkten Armen hinter Connie und blickte genervt zu seinen Truppenmitgliedern hinunter. Ein kurzes und krümeliges „Jawohl" und ein Platzwechsel folgte, doch der Gefreite seufzte nur.
„Nimm deinen Dreck mit, Connie!" zischte er. Ich musste schmunzeln und lag meinen Kopf auf meiner Hand ab. Diese ganze Situation – sie wirkte beinah so, als hätten wir uns nach der letzten Mission kaum verändert. So als seien wir so unbeschwert und glücklich wie vorher. Doch jeder von uns wusste, dass dem nicht so war. Wir alle verspürten diesen Druck in der Brust, die Trauer und die Verzweiflung in unserem Nacken sowie den Schmerz tief in unserem Herzen. Wir alle hatten einige Menschen verloren, die wir gut gekannt und viele, die wir nur unsere Kameraden genannt hatten. Ich blickte auf meinen Teller und rührte in meiner Suppe. Diese Erkenntnis holte mich zurück in die kalte Realität.
„Hey, alles in Ordnung?" fragte Levi mich, der sich nun widerwillig neben mich setzte und seine Hand auf meinen Oberschenkel lag, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Ich sah auf und nickte. Doch gleichzeitig wusste ich, dass dort eine weitere Erkenntnis war, über die ich mit ihm sprechen musste. Die Erkenntnis, dass wir gemeinsam ein Kind erwarteten.

Der Abend klang entspannt aus. Besonders die jungen Teammitglieder aßen reichlich und schienen bereits jetzt einen leichten Erholungseffekt zu verspüren. Einer Weiterreise am morgigen Tag stand somit nichts im Wege.
„Wir werden gegen Mittag aufbrechen!" erklärte Hanji, als ich gemeinsam mit ihr und Levi einen Tee trank.
„Gut, dann bleibt allen noch etwas Zeit für Erledigungen." sagte ich und nahm vorsichtig einen Schluck des noch heißen Getränks.
„Ich habe mir übrigens Gedanken gemacht, -dN-. Solange du nicht weißt, ob du ein Kind erwartest oder nicht und auch falls du schwanger bist, möchte ich dir erstmal kein neues Team anvertrauen." meinte Hanji nun. Sie sah mich eindringlich an und fügte hinzu: „Das heißt nicht, dass sich dein Rang verändert. Du bleibst weisungsbefugt." Ich nickte zustimmend.
„Aber ich weiß es schon...." flüsterte ich fast, wobei ich meine Tasse vor meinen Mund hob, so als wolle ich diese Worte in ihr ertränken. Levis Augen weiteten sich. Sein Blick lag wartend auf mir.
„Uuuuuund?" rief Hanji aus. Sie beugte sich etwas über den Tisch und strahlte bereits jetzt vor Begeisterung.
„Ich bin es. Auch wenn der Arzt gesagt hat, dass es noch sehr früh ist." seufzte ich heraus. Ich starrte auf meine Tasse - auf den Dampf, der aus ihr aufstieg und diesen herben Duft im Raum verbreitete. Es war einer dieser wenigen Gerüche, die meine ständige Übelkeit verdrängen konnte.
„Das muss man sich mal vorstellen! Ein Kind zweier so talentierter Kämpfer. Es muss unglaublich geschickt werden." phantasierte die Kommandantin.
„Dieses Kind kommt nicht auf die Welt, um in den Krieg zu ziehen, Hanji." zischte Levi. Genervt sammelte er das Geschirr ein.
„Ich weiß.... Wenn es nach mir geht, ist der Krieg dann längst vorbei..." Hanjis Ton war plötzlich verändert. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Ernsthaftigkeit wieder, die ich zuvor nie bei ihr gesehen hatte. Es war ein starrer, beinah verzweifelter Blick, der mir offenbarte, wie aufzerrend ihre neue Position für sie war. Ich lag meine Hand auf ihre Schulter.
„Bestimmt wird das alles dann schon hinter uns sein." versuchte ich meine Kameradin aufzubauen, doch gleichzeitig fragte ich mich, ob wir Drei dann noch gemeinsam an einem Tisch sitzen könnten. Wen von den Beiden würde ich noch sterben sehen? Oder war ich die Nächste, die Erwin in den Tod folgen würde? Ich schluckte schwerfällig.
„Lass uns hoch gehen!" sagte Levi plötzlich. Er stand hinter meinem Stuhl und stützte sich mit einer Hand an der Lehne ab. Sein Gesichtsausdruck war immer noch der Gleiche. Keine Freude, keine Wut – nichts war aus ihm abzulesen. Er blickte einfach in die Welt hinein, so wie er es immer tat. Schwerfällig stand ich auf und folgte ihm schweigend in sein Zimmer, nur um hinter uns die Tür zu schließen und meiner Unsicherheit freien Lauf zu lassen.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll..." stotterte ich heraus. Immer noch lehnte ich an der Tür.
„Einen kühlen Kopf behalten, wäre schon mal ein Fortschritt..." meinte Levi. Er entdeckte meine Körperhaltung und kam auf mich zu. Mit einer Hand drückte er gegen die Tür. „Im Gegensatz zu mir war dir also nicht bewusst, dass du schwanger werden konntest? Hätte ich dich vorher noch aufklären müssen?" Levis Ton wurde scharf. Seine Augen suchten konzentriert nach Blickkontakt, doch ich drehte mein Gesicht weg. In meinem Hals herrschte Trockenheit. Kein Ton wollte aus mir herauskommen. Es war eine trotzige Stille in mir. Der Gefreite wandte sich von mir ab. Langsam ging er zu seinem Bett und setzte sich. Mit gebückter Haltung starrte er auf den Boden – seine Augen verdeckt von seinem Haar. „Ich habe dir alles gesagt, was ich kann. Es ist dein Körper. Wenn du es verlieren willst, werde ich dir helfen, jemanden zu finden, der es entfernt. Mehr kann ich nicht tun..." Levi strich sich durchs Haar. Er sah mich nicht an. Sah nicht wie ich weinte.
„Das kann ich nicht...." brach es aus mir heraus. Meine Tränen überrannten mich. Wild schluchzend stand ich nun da und wischte mit den Ärmeln in meinem Gesicht herum. Ich hörte Levis Seufzen. Hörte seine Schritte, die auf mich zukamen und spürte die Hände an meiner Hüfte, die mich an ihn heranzogen.
„Wie schwer willst du es mir noch machen? Muss ich dir wirklich direkt sagen, dass ich dich und dieses Kind will?" fragte er. Energisch drückte er seine Lippen auf meine. Wir küssten uns. Es schmeckte salzig. Doch so länger unserer Zungen miteinander spielten, desto bitterer wurde dieser Kuss. Ich seufzte in mich hinein. Meine Seele schrie, dass er mich damit nicht allein lassen solle. Und dann roch ich diesen Duft an ihm und wusste, dass es entschieden war. Es duftete nach Gänseblümchen.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now