79. Vergangenheit

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Nachdem Levi und ich auf dem Markt etwas gegessen und zudem Proviant für die Reise gekauft hatten, betraten wir den Stall und bereiteten uns vor. Wolke wieherte erfreut, als sie mich entdeckte und brachte mich mit ihrer aufgeschlossenen Art zum Lachen. Behutsam führte ich sie hinaus und bereitete sie und mich für unseren Ausflus nach Stohess vor. Levi trat an mich heran und beobachtete mich.
„Seit wann trägst du nur einen Handschuh?" Er blickte auf meine Hände. Ich sah verunsichert auf.
„Seit ich den Verband hatte...." Der Gefreite seufzte.
„Wenn du darauf verzichtest, werden deine Wunden strapaziert..." warf er ein und kam auf mich zu. Er griff nach meiner linken Hand. Zusammenzuckend ließ ich es zu, obwohl ich einen Druck in meinem Bauch spürte. Es war mir unangenehm, wie er meine Verletzung betrachtete. So unangenehm, dass ich Gänsehaut bekam. Levi musterte mein Gesicht. „Wenn du Handschuhe trägst, kann es dir vielleicht mit dem Greifen helfen." Ich schüttelte den Kopf.
„Das tut es nicht.... Es funktioniert eh nicht, Levi. Ich habe in der letzten Mission meine linke Hand gar nicht einsetzen können."
„Gib dir Zeit!" Ich stöhnte genervt auf.
„Außerdem – weißt du wie blöd das mit dem Handschuh aussieht?" warf ich nun ein. Seine Augen weiteten sich.
„Du trägst ihn nicht, weil es blöd aussieht? Ist das dein scheiß Ernst?" Ich nickte.
„Die hängenden Stoffteile stören zudem." korrigierte ich mich, doch Levi ging bereits zu seinem Pferd.
„Wenn wir uns mit so einem Mist weiter aufhalten, kommen wir nicht mehr vor Sonnenuntergang in Stohess an..." zischte er, während er sich auf sein Pferd begab. Ich tat es ihm gleich und blickte weg. Auch wenn es für ihn vielleicht nur drei Finger waren, für mich war diese Verletzung die Erinnerung an meine Schwäche und an meine Dummheit – beides hatte mir Kenny effektiv vorgeführt. Es war die Erkenntnis, dass ich am Ende nur überlebt hatte, weil dieser Typ mich aus der zusammenstürzenden Höhle gerettet hatte. Levi wusste dies noch nicht einmal. Ich hatte es ihm nie erzählt, denn er hatte nie danach gefragt. Ich seufzte. Vielleicht sollten wir auch diesem Kenny einen Besuch abstatten. Immerhin schuldete er mir und seinem Neffen noch einige Antworten.

Eilig folgte ich Levi die Treppe hinunter in die Unterwelt von Stohess. Wir waren gegen Abend in der Stadt angekommen und hatten uns sofort zu dem Treppenaufgang begeben, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Ich seufzte. Dieses ständige Hinterherrennen machte mich müde.„Unglaublich..." rief ich aus, als wir unten angekommen, der unterirdischen Stadt entgegensahen. Die Straßen waren fast vollständig leer. Seit der Aufgang unbewacht und für jeden passierbar war, verließen immer mehr Menschen dieses Gebiet. Nur die Alten und die, die sich nicht trauten, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen, blieben und verharrten hier, in der Hoffnung, das Leben ginge irgendwie weiter.
„Die Meisten haben die Stadt wohl schon verlassen..." meinte Levi zu mir. Er sah die Treppe hinauf zum Licht. Seine Augen begannen zu glänzen.
„Dann haben wir es geschafft." Ich nahm seine Hand und lächelte. Diese Unterwelt war nun ein Teil der Geschichte – mehr nicht. Sie war Vergangenheit. Kein Mensch dieses Volkes musste nun mehr in dieser dunklen Stadt sein Dasein verbringen. Keiner war gezwungen, vom Tageslicht abgeschieden, aufzuwachsen. Auch Levi lächelte. Wie erleichternd musste diese Erkenntnis für ihn sein? Wie glücklich machte es ihn? Ich wusste es nicht, doch was ich erkennen konnte, war eine tiefe Zufriedenheit in seinem Blick, die ich nur selten in ihm erblicken konnte.
„Komm!" meinte er nun und zog mich hinter sich her. Wir schritten durch die Gassen direkt zu Monas Taverne und blieben vor dieser geschockt stehen. Das Gebäude schien verlassen. Es brannte weder ein Licht noch hörte man Gelächter oder andere typische Geräusche. Levi ging den Treppenaufgang hinauf und entdeckte einen kleinen Zettel an der Tür kleben. Mit geweitetem Blick sah er zu mir zurück.
„Vielleicht ist sie unterwegs?" warf ich ein, doch in seinem Gesicht breitete sich ein Schatten aus. „Was?"
„Sie ist tot..." Meine Brust zog sich zusammen. Schwerfällig ließ ich ein Seufzen frei und setzte mich auf einer der Stufen. Levi gesellte sich zu mir und blickte mich an.
„Sie hatte ein langes Leben, -dN-. Länger als die Meisten von uns... Wie ich sie kenne, hat sie die Veränderung nicht ertragen..." meinte er und lehnte sich dabei vor, sodass er sich mit seinen Armen auf seine Beine stützte. Ich nickte.
„Ich weiß..."Vor uns hinstarrend saßen wir für einige Momente einfach nur da und schwiegen. Wir sahen in die leeren Straßen der Unterwelt. Ich schaute zu Levi. Er seufzte.
„Als ich noch hier gelebt habe, habe ich oft darüber nachgedacht, Monas Taverne zu übernehmen...." sagte er plötzlich. Neugierig lehnte ich mich ein wenig nach hinten und räusperte mich.
„Du wolltest eine Taverne führen?"
„Nein, ich wollte sie zu einem Teeladen machen.... Dann, wenn ich genug Geld beisammengehabt hätte. Also sehr wahrscheinlich nie." Levi sah zurück und musterte meine Reaktion. Sein Haar fiel ihm ins Gesicht. Ich lächelte.
„Also hätte ich dich bei der Räumung der Unterwelt hier in einem Teeladen gefunden." Ein Grinsen überkam mich.
„Als wäre dir ein Typ aus der Unterwelt je aufgefallen...." Er wich meinem Blick aus. Warum sagte er so etwas? Ich schluckte schwerfällig. In meinem Herzen stach es. Diese Aussage verletzte mich – nein – sie machte mich traurig.
„Du wärst mir aufgefallen, du Idiot." schimpfte ich, um meinen Verdruss zu überspielen und drückte mich an ihm. „Immer wenn ich irgendwo hinschaue, finden meine Augen dich... Das wäre hier unten nicht anders gewesen. Wahrscheinlich hätte ich mich gezwungen, dich anzusprechen und zu fragen, ob du uns helfen kannst – für, wer weiß was – nur um dich wiederzusehen... Und dann hätte ich dich wahrscheinlich in meinen Trupp aufgenommen." Ich lachte. Dieser Gedanke war irgendwie komisch und dennoch war ich mir sicher, dass es so gekommen wäre – ganz bestimmt.
„Und gradewegs in den Tod geführt...." Levi spottete, doch seine Augen glänzten.
„Vielleicht hättest du ja deinen Erwachungsmoment mit mir gehabt...." Ich grinste.
„Kommst du schon wieder damit an.....? Wer weiß, was du dann mit mir gemacht hättest."
„Oh, da wären mir einige Sachen eingefallen." Levi stand auf. Auch wenn er mich nicht ansah, spürte ich, dass er lächelte. Wir beide waren sicherlich froh, dass alles anders gekommen war und wir uns am Ende an jenem Tag bei meiner und Linas Rettung getroffen hatten. Auch wenn unser bisheriger Weg schmerzhaft war, bereute ich nicht einen dieser Momente.
„Sie hätten dich gemocht, -dN-." sagte Levi plötzlich und blickte zu mir hinunter, „Isabel und Furlan.... Sie hätten sich sicherlich gefreut, dich kennenzulernen. Isabel wäre wahrscheinlich um dich herumgerannt und hätte nicht aufgehört zu reden – so nervig wie sie war." Levi drehte sich zu mir um. Ich erblickte es – sein Lächeln. Es war wehmütig und dennoch war es da. Seine Hand lag er auf meinen Kopf und strich über mein Haar. Ich nahm sie und stand auf. Traurig blickte ich auf seine einzelnen Finger, die ich umklammerte.
„Ich hätte sie auch gern getroffen...." meinte ich und lächelte. Es war das letzte Mal, dass Levi und ich hier in der Unterwelt waren. Das letzte Mal, dass wir den Ort seiner Kindheit und seiner Jugend besucht hatten. An diesem Tag ließ er diesen Ort und damit seine Vergangenheit hinter sich und schritt weiter voran. Auch wenn er das hier Erlebte nie vergessen würde und sich immer bewusst war, woher er stammte. Er ging vorwärts und sah nicht zurück.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now