121. Momente

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Nichts war faszinierender als seine Augen. Nichts konnte ich so lange ansehen, ohne nur den Hauch der Langeweile zu empfinden. Nein, im Gegenteil: In mir herrschte eine motivierende Aufregung. Ich wollte diese Augen immer mehr mit Staunen füllen. Sie förmlich mit Eindrücken befeuern, nur um in ihnen dieses eine Leuchten heraufzubeschwören.

Wie oft glänzten seine Augen an jenem Nachmittag genauso, wie ich es liebte? Wie oft konnte ich diesen einen Blick bei ihm erkennen, der mein Herz höherschlagen ließ? Ob das Kino, ein Schallplattenladen oder die Fabriken am Horizont – Levis Blick zeigte die unterschiedlichsten Emotionen. Manchmal leicht erschrocken, ein anderes Mal ein wenig angewidert, später dann beeindruckt. In ihm brodelten die verschiedensten Eindrücke und Gefühle, die ich zu lesen verstand. Und gewiss – ich lass an diesem Tag alles, was ich ihn ihm entdecken konnte.
Ich genoss sie eben – diese Momente, in denen er mir einen Teil seiner Gefühle offenbarte.

Im Gegensatz zu Hanji, die fast jeden Ort lauthals kommentierte, schwieg Levi die meiste Zeit und ich ließ ihn. Er sollte diese Welt so erleben und verarbeiten, wie er es brauchte. Meine eigenen Bedürfnisse – sie waren dabei eine reine Nebensache. Verdrängt und von mir selbst vergessen, merkte ich erst am Abend, als die Sonne bereits untergegangen war, wie hungrig ich eigentlich war.

„Vielleicht sollten wir noch was essen, bevor wir zurück ins Hotel gehen" ,schlug ich vor. Ich lauschte in die Stadt hinein. Von irgendwoher – es konnte nicht weit weg sein – hörte ich Musik.
„Hört ihr das?" ,fragte Hanji plötzlich, so als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich lächelte. Sie hatte den gleichen Gedanken wie ich. „Lass uns nachschauen, was es ist!" ,meinte meine Freundin noch und schritt bereits los. Ihre Stimmung steckte mich an.

Prüfend sah zu Levi, der Kuchel auf dem Arm trug.
„Du willst da wahrscheinlich auch hin, oder?" ,erkannte er bereits, während er seine Hand auf meine Schulter legte, um mich daraufhin ein wenig anzuschieben. „Los! Ist schon in Ordnung..."
Ich grinste.
„Danke" ,sagte ich, bevor wir unserer Kommandantin folgten.


Nach einiger Zeit der Suche entdeckten wir es: Das kleine Straßenfest, welches uns mit seiner Musik angelockt hatte. Beschmückt mit bunten Lichtern lockten einige Essensbuden ihre Gäste an, während die Verkäufer ihre Waren anpriesen.

Die Straße war erfüllt von dem Duft der Fleischspieße und süßen Pfannkuchen, die frisch zubereitet auf ihren Tellern warteten, bis sie endlich verspeist wurden. Dieser Anblick – er ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl ich mich von dem Hunger abzulenken schaffte, denn etwas anderes gewann meine Aufmerksamkeit.

Es war die Tanzfläche. Sie lud durch die orientalisch klingende Musik zum Bewegen und Feiern ein, wobei sich das Gemurmel der Menge mit der Melodie vermischt. Einige Leute, die meisten schienen schon leicht angetrunken, schwangen bereits ihre Körper – manche gekonnt, einige andere etwas schwerfällig. Doch sie alle lachten und schienen Spaß zu haben.

Ich blickte zu Levi. Er wusste genau, was ich wollte.

„Vergiss es!" ,zischte er, während er Hanji dabei beobachtete, wie sie Getränke holte. Unsere Kommandantin brachte drei Gläser mit einem gelblich/orangen Gemisch. Ich roch daran, nachdem sie mir eines dieser gereicht hatte. Ja, es war definitiv Alkohol.

„Auf den Aufklärungstrupp!" ,rief Hanji aus und hob ihr Glas in die Höhe, bevor sie einen großen Schluck davon nahm, um daraufhin laut aufzustöhnen. „Lecker..."

Ich nippte an dem Getränk. Es war sehr süß, wenn es auch im Abgang seinen hochprozentigen Anteil offenbarte. Wahrscheinlich hatte man Mango- und Orangensaft mit einigen anderen Zutaten gemischt, um damit den Gästen einen billigen Weinbrand oder ähnliches unter zu jubeln. Denn auch das schlechte Gesöff musste irgendwie an den Mann oder die Frau gebracht werden.

„Willst du auch noch eins?" ,fragte Hanji, als sie entdeckt hatte, dass auch ich mein Glas geleert hatte. Ich blickte zu Levi, der mich etwas skeptisch ansah.

„Ach, eins wird noch gehen..." ,meinte ich und schickte meine Freundin los, die ohne zu zögern zwei frische Gläser mit einer Karaffe brachte.
„Der Verkäufer meinte, es sei günstiger." ,erklärte Hanji. Sie schenkte uns ein und wir tranken. Während Levi sich mit seiner ersten Portion begnügte, kippten Hanji und ich ein Glas nach dem anderen, bis wir irgendwann lachend an einem Tisch lehnten. Wir quatschten über die Ereignisse des Tages, witzelten über alles Mögliche, nur um irgendwann zu erkennen, dass Levi uns immer genervter beobachtete. Er biss die Zähne zusammen und wirkte angespannt.

„Ihr seid stockbesoffen" ,schimpfte er.
„Egaaal, Levi. Alles gut" ,rief Hanji aus. Sie hielt sich an meiner Schulter fest, um mit der anderen Hand zu gestikulieren, wobei auch ich fast das Gleichgewicht verlor, nur um wieder mit dem Kichern zu beginnen.
„Hanji, niiiicht..." ,schrie ich.

„Und wie soll ich euch alle zum Hotel bekommen?"
Levis Blick wanderte von Kuchel zu uns und wieder zurück. Er strich mit seiner Hand über den Kopf unserer schlafenden Tochter. Sie ließ sich selbst von unserem Krach kaum stören.

„Wir laufen selbst!" ,sagte Hanji. Sie zeigte mit ihrem Finger in die Richtung, in die wir gehen mussten. Ich nickte, umarmte sie von hinten und meinte nur:
„Dann los!"

Unser Weg war schlängelig, doch wir kamen vorwärts. Scherzend legte Hanji ihren Arm erst um mich und dann um Levi. Sie drückte uns an sich.
„Ihr seid schon welche..." ,stöhnte sie, wobei sie ihr Gesicht an das meine presste. Ihre Wange war heiß.
„Das sagt die Richtige" ,beschwerte sich Levi. Doch dann blieb Hanji plötzlich stehen und starrte zum Himmel.
„Ob wir Drei wohl irgendwann in Frieden leben können? So wie jetzt... nur auf Paradies...?"

Hanji wirkte wie ausgewechselt. Ihr Auge hatte das Strahlen, welches es auf dem Fest dauerhaft gezeigt hatte, verloren und wirkte nun trüb. Ihr Lächeln, verschluckt von ihren Sorgen, war den nun heruntergezogenen Mundwinkeln gewichen. Ich sah sie traurig an.

„Hanji..."
Es war das Einzige, was ich herausbrachte. Jetzt, wo sie betrunken vor mir stand und mir zeigte, dass sie sich insgeheim die gleichen Fragen stellte – sie dieselben Gedanken quälten - fühlte ich eine tiefe Verbundenheit. Hanji war nicht einfach nur eine Freundin. Sie war eine Leidensgenossin. Eine Gefährtin, so wie Levi es ebenfalls für mich war. Und auch ein Familienmitglied.

Ich sah zu Levi. Auch für ihn musste sie eine besondere Person sein. Auch für ihn war sie mehr als seine Kommandantin. Er kannte sie viel länger als ich, hatte mit ihr zusammen noch viel mehr erlebt und war am Ende gemeinsam mit ihr die Letzten aus dem alten Trupp. Einem Trupp, den ich schon nicht mehr erlebt hatte.
„Hanji, das ist der falsche Zeitpunkt... Schlaft erstmal euren Rausch aus, bevor ihr noch zu flennen beginnt..." ,meinte Levi nun, während er unsere Freundin gegen mich schob, um uns irgendwie anzuschieben. „Bewegt euch!" ,zischte er dabei noch.

Sein Ton war bestimmend, doch ich wusste, dass er uns nur vor diesen Gedanken schützen wollte. Diese Gedanken, die jeden von uns hin und wieder einholten, um uns an unser Leiden zu erinnern. Egal ob Hanji, Levi oder ich – uns drei bedrückten ähnliche Sorgen. Wir empfanden den gleichen stechenden Schmerz. Gemeinsam blickten wir zurück zu unseren gefallenen Kameraden oder nach vorn ins Ungewisse – keines von beiden war wirklich einladend – und schritten weiter.

Manchmal lachend. Manchmal weinend. Und manchmal eben ein wenig betrunken.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt