96. Das Meer

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Der nächste Morgen brach an. Die Sonne erhellte ganz leicht unser Zimmer und brachte die Luft förmlich zum Knistern. Ich seufzte zufrieden, als mich das leise Gebrabbel meiner Tochter aus dem Schlaf heraushob, sodass ich mich noch etwas müde umsah.
Levi war bereits aufgestanden und stand vor dem Spiegel, um sich in Ruhe sein Tuch um den Hals zu binden. Ich grinste und musterte ihn – ich liebte es, wie er mit dem Stoff umging und dabei diesen konzentrierten Blick hatte.

„Bist du dir sicher, dass wir sie mitnehmen sollen?" fragte er und sah zu mir herüber. Ich nickte und stand auf. Ein kurzer Blick in den Stubenwagen verriet mir, dass Kuchel grade mit sich selbst beschäftigt war, indem sie ihre Füße zu greifen versuchte.
„Ja, so wie es aussieht, sind die Titanen doch alle erledigt."
„Und was, wenn nicht?"
„Wir sind genug Leute, um zu Not den ein oder anderen Titan zu erledigen, Levi. Falls also doch irgendwo noch einer ist, mache ich mir auch da wenig Sorgen." erklärte ich, während ich mich in meine eigene Uniform quetschte.

Es zwickte und drückte, doch mit Wut und Gewalt bekam ich die Hose dennoch zu, nur um dann den Speckberg zu entdecken, welcher mein Bauch darstellte. Ein Stöhnen überkam mich. Obwohl ich bereits einige Wochen nach der Geburt mit Sport angefangen hatte und mich so gut es ging bemühte, mitzuhalten, war ich wie ausgebremst. Mein Körper weigerte sich, das zu leisten, was er vor der Schwangerschaft erbracht hatte und ich konnte es ihm wohl kaum verübeln. Die Geburt und auch das Stillen zerrte genug an ihm. Es forderte seine Kraft – fraß mich beinah auf – und bremste so mein Vorankommen beim Muskelaufbau massiv ein. Doch ich konnte es nicht akzeptieren. Ich musste einfach weitermachen, um meinen Kameraden aber vor allem auch mir, zu beweisen, dass ich mich doch eigentlich nicht verändert hatte. Eine Lüge, die ich mir selbst einzureden versuchte.

Wahrscheinlich war ich die Einzige, die es von mir selbst verlangte. Wahrscheinlich blickte niemand so kritisch auf mich, wie ich es zur Zeit selbst tat. Doch ich sah jeden Morgen jemanden im Spiegel, der ich nicht sein wollte – eine einfache Mutter.
Ja, ich nahm diese Rolle an. Für Kuchel und auch für Levi, der mir nun mal nicht alles abnehmen konnte. Doch das allein durfte ich nicht sein. Ich wollte wieder eine Soldatin sein. Meine Position im vollen Umfang einnehmen. Vorstürmen, Angreifen und Siegen – egal, was es kostete. Es war immer meine Divise gewesen.

Genervt blickte ich zu Levi herüber, als ich den letzten Knopf an meinem Hemd zumachte. Wie dachte er wohl in letzter Zeit über mich? Hatte sich seine Einstellung zu mir verändert? Würde er mir in einem Kampf nun genauso vertrauen können, wie er es vor meiner Schwangerschaft konnte? Ein Seufzen entglitt mir und ließ ihn aufhören. Er kannte meine Sorgen. Er wusste, wer ich war und was mich beschäftigte. Langsam kam er auf mich zu und lag seine Hand auf meinen Kopf. Seine Lippen waren zu einem ruhigen Lächeln geformt.

„Du willst mal wieder alles viel zu schnell."

Er wuschelte mir durchs Haar. Ich sah ihn verdutzt an – diesen Mann, der genau wusste, was ich hören wollte.
„Ich werde Kuchel, bis wir in Shiganshina sind, umbinden. Danach können wir schauen, ob wir wechseln..." warf er noch ein und ging an mir vorbei, um unser Tragetuch zu nehmen.

Lange hatten wir überlegt, ob wir uns einer dieser umständlichen, aber schönen Kinderwagen kaufen wollten – natürlich träumte auch ich von so einem niedlichen Wagen, den ich gelassen vor mir herschieben konnte. Doch wir hatten schnell erkannt, dass so etwas einfach nicht zu unserem Leben passte. Also hatten wir uns ein großes Tuch besorgt, welches wir nutzten, um Kuchel meist an unsere Brust zu binden, sodass wir nichts weiter als sie und ein paar Stoffwindeln mitnehmen mussten. Es war weniger niedlich und im Sommer auch manchmal etwas warm, doch es war die weit aus praktischerer Möglichkeit unsere Tochter zu transportieren.

Levi hatte ziemlich schnell den Dreh mit dem Binden heraus und benötigte nicht mehr als drei Minuten, um Kuchel an sich festzubinden. Wie selbstverständlich knotete er den Stoff und positionierte seine Tochter an seinem Körper.
„Können wir?" fragte er und zupfte noch ein wenig an Kuchel, um den Halt zu prüfen. Ich nickte und folgte ihm.


Am Stall angekommen, begann zunächst die Begeisterung unserer Kameraden. Natürlich war Kuchel in aller Munde und viele – besonders Mikasa und Armin – wollten die Kleine begrüßen. Es war ein unglaublich niedlicher Anblick, wie sie Kuchels Hand nahmen und mit ihr redeten, auch wenn Levi nur ungern das ganze Prozedere abwartete.

Ich holte unsere Stuten aus ihren Boxen heraus, lag das Reitzeug an und brachte Levi sein vorbereitetes Pferd.
„So, dann mal los!" rief Hanji zu uns herüber und ritt vor, während wir noch aufstiegen. Der Weg, den wir vor uns hatten, war lang und wir mussten zügig von Stadt zu Stadt reiten, um den Zeitplan unserer Kommandantin einzuhalten.

Ich genoss das Galoppieren über die Ebene und blickte immer wieder zu meine Zwei herüber. Die Kleine schien einerseits Spaß am geschaukelte zu haben, andererseits sich aber auch nicht vom Schlafen abhalten zu lassen. Sie war also vollkommen zufrieden. Ich lächelte dankbar zu Levi herüber. Auch er schien erleichtert, dass unser Vorhaben so gut umzusetzen war.

Nach einiger Zeit ritten wir durch die Tore Shiganshinas und verließen damit den Schutz der Mauern. Es war das erste Mal seit einem Jahr, dass ich hinter ihnen war. Das erste Mal seit einem Jahr, dass ich dieses Gefängnis, was uns auf eine ganz bestimmte Art und Weise Schutz bot, verließ. Wir ritten geschwind Richtung Süden und kamen gut voran.
„Wie es scheint, haben wir sie in nur einem Jahr ausgerottet." meinte Levi zu Hanji. Diese nickte.
„Dann können wir ja, wie geplant, unser Ziel ansteuern." Unsere Kommandantin zeigte nach Vorn. Doch dann plötzlich meldete sich Jean zu Wort:
„Ein Titan."
„Seid vorsichtig!" rief Connie.
Ich blickte zu Levi. Da Kuchel bereits seit einiger Zeit am Schlafen war, hatten wir sie bei ihm gelassen. Etwas, was ich kurzzeitig bereute, bis ich den von meinen Kameraden genannten Titan entdeckte. Es war ein kleiner, runder Riese, der sich kriechend voran bewegte. Seine Glieder schienen für sein Körpergewicht nicht ausreichend stark, sodass er wohl niemals auf die Beine kommen würde.
„Was für eine armselige Kreatur..." sagte ich eher zu mir selbst. Doch Sasha stimmte mir zu:
„Ich glaube, er hat seinen Körper Stück für Stück Richtung Mauer geschoben."
Unsicher blieben wir stehen und sahen dem Monstrum zu, wie es wieder und wieder versuchte, sich auf uns zu zubewegen, nur um daran zu scheitern.
„Lasst ihn! Er stellt keine Gefahr dar." befahl Levi nun und sah sich um.

Niemand widersprach – jeder von uns hatte wohl ein wenig Mitleid mit diesem Wesen, was einst ein Mensch gewesen war. Ein Wesen, was ihnen alle so nah war, da alle außer Levi und ich selbst zu solch einem Monster werden konnten. Dieser Gedanke – er musste ihnen dauerhaft im Nacken sitzen. Zwickend und hin und wieder stechend – wie eine Nadel, die sich in sie hineindrang.

„Lasst uns weiterreiten!" befahl Hanji nun und spornte ihr Pferd an, um voranzukommen. Wir alle taten es ihr gleich und folgten ihr – unserer neuen Kommandantin, die in diesem Moment nur ein Ziel vor Augen hatte.

Die Stunden vergingen. Der Wind wehte uns immer stärker entgegen und flüsterte uns das Versprechen des Meeres zu. Immer wieder sog ich die Luft in mich ein, um zu erkennen, dass der Gestank der Städte verschwand und die Frische des Wassers Einkehr in meine Nase fand. Irgendwann – die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt am Himmel überschritten – nahm ich eine leicht salzige Note in der Luft wahr. Meine Finger begannen zu kribbeln. Eilig spornte ich Wolke ein weiteres Mal an, um den Hügel heraufzueilen und meine Kameraden kurz hinter mich zu lassen, nur um diesen Anblick endlich zu erhaschen.

Da zeigte es sich mir und türmte seine Wellen wild vor mir auf, so als wolle es unser Wiedersehen laut bekunden – das Meer. Es glänzte mir in einem wunderschönen Blauton entgegen, sang mit seinem Rauschen das Lied der Freiheit und pustete mir seine kalte Luft ins Gesicht. Ich blinzelte kurz und blickte dann zum Horizont – dorthin, wo irgendwo meine Heimat auf mich wartete.

Langsam hörte ich das Herantraben der Pferde meiner Freunde und erblickte ihr Staunen. Keiner konnte es in Worte fassen. Keiner von ihnen konnte es fassen, obwohl ich ihnen bereits so oft von diesem Ort erzählt hatte. Die Schönheit dieser Freiheit griff nach ihnen und ließ sie verstummen.

Ich sah zu Levi – sah diesen Glanz in seinen Augen. Auch er konnte diesen Augenblick kaum ertragen und dennoch genoss er ihn. Es war das erste Mal, dass er die Freiheit wirklich erblicken konnte. Das erste Mal, dass er die Grenze zwischen dieser Welt und dem Himmel erkennen konnte und dabei in die Weite hinaussah. Wie musste es sich für einen Menschen wie ihn, der so lange gegen eine Decke gestarrt hatte und erst seit einigen Jahren den Himmel kannte, anfühlen? Wie empfand er wohl?

Ich ritt an ihn heran, blickte neugierig zu ihm, nur um dieses eine Lächeln zu sehen. Dieses Lächeln, was mir sagte, dass er glücklich war – jetzt in diesem Moment mit all dem, was in seinem Leben passiert war und ich grinste zurück. In dem Wissen ein Teil von diesem Augenblick zu sein – ein Teil von diesem Glück.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now