65. Ritt in das Ende

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Meine Augen weiteten sich. In ihnen sprießten die Tränen der Hoffnungslosigkeit. Sie fluteten mein Gesicht und schienen mich zu ertränken. Ich schniefte.
"Wie kann er nur?" fragte ich mich und spürte ein Stechen in meinem Herzen. So lange hatte ich auf diesen einen Satz gewartet und nun zum Zeitpunkt unseres Abschiedes sagte er ihn. Ich drückte mich von Levi weg. Aggressiv wischte ich meine Tränen mit meinem Ärmel fort. Es reichte. Ich wollte nicht mehr verzweifeln. Ich wollte nicht mehr weinen. Mit gehobenem Haupte sterben – es war das Einzige, was ich mir noch ermöglichen konnte. Doch dann überkam mich das Husten ein weiteres Mal. In mir breitete sich die Übelkeit aus. Unsicher hielt ich meine Hand vor meinen Mund und atmete tief durch. Ich blickte zu Levi. Die Resignation in seinem Gesicht war plötzlich verschwunden. Sein Blick war eindringlich, fast schon befehlend.
"Es tut mir leid, -dN-. Aber wenn ich es nicht tue, bereue ich es mein Leben lang...." Meine Augen weiteten sich. Was meinte er plötzlich? Levi wandte sich ab. Er ging zu Erwin und redete mit ihm. Erst in Ruhe, doch plötzlich schienen sie zu diskutieren. Der Kommandant faste sich am Kopf. Er sah ernsthaft immer wieder zu mir herüber, bis er auf mich zu kam. Sein Gefreiter begleitete ihn.
"Genau davor hatte ich dich gewarnt, Levi...." sagte er. Levi wirkte beinah demütig neben Erwin, doch trotzdem konnte ich eine innere Ruhe in ihm ausmachen. Er hatte das getan, was er für richtig hielt.
"Ich weiß, Erwin." Die Beiden blieben bei mir stehen. Erwin trat ein Stück näher an mich heran. Er musterte mich.
"Kann es sein, dass du schwanger bist?" fragte er. Ich errötete und schwieg. Mein Herz klopfte plötzlich wie wild. Meine Hände schwitzten. In mir machte sie ein Unbehagen breit. Es schien mich innerlich zu zerdrücken. Schwanger - was sollte ich dazu sagen? Bis vor ein paar Sekunden hatte ich diesen Zustand nicht in Erwägung gezogen oder die Möglichkeit sonderlich gut verdrängt - wahrscheinlich war Letzteres der Fall gewesen. Denn ein Kind war nicht grade das, was ich zurzeit gebrauchen konnte. Levi blickte mich eindringlich an. Ich fummelte an meiner Hand. Sein Blick war weder freundlich noch wütend. Er schaute einfach nur zu mir. Ich schluckte. Ich hatte in keiner Situation darauf geachtet, hatte mich einfach gleiten lassen und niemals hinterfragt, welche Konsequenz unsere Lust haben könnte. Somit gab es nur eine richtige Antwort: Die Möglichkeit einer Schwangerschaft bestand.
"Falls du wirklich ein Ackermann-Kind in dir trägst und wir scheitern, kann es die einzige Hoffnung für die nächste Generation sein" meinte Erwin nach kurzer Überlegung und faltete seine Hände. Angewidert sah ich ihn an. Selbst in diesem Moment entschied er nicht zum Wohle eines Kindes oder seines Gefreiten. Er entschied taktisch, so wie ein Stratege es eben tat. Jemand, der sein Herz irgendwann tief in sich vergraben hatte. "Daher wirst du hier hinter den Häusern bleiben und dich schützten. Levis Schwäche scheint wohl dein Glück zu sein." fügte er hinzu und ging zu seinem Pferd. Ich ballte meine Faust. Das war also der letzte Befehl meines Kommandanten an mich? Die letzten Worte, die ich jemals von diesem Mann hören würde? Ich seufzte, doch lag Levi seine Hand zärtlich auf meinen Kopf. Unsicher blickte ich zu ihm.
"Es tut mir...."
Er drückte seine Finger auf meine Lippen.
"Das solltest du nicht sagen, außer du bereust es." wandte er ein und fügte hinzu: "Pass du auf die restlichen Pferde auf! Wir werden sie hoffentlich brauchen. Und wenn keiner zurückkehrt, dann flieh!" Levi reichte mir sein Taschentuch. Ich presste meine Lippen zusammen und nickte gezwungen. Wahrscheinlich würde ich es brauchen, denn was wir gleich erleben würden, wäre die vollkommene Auslöschung unseres Trupps. Allein der Gedanke daran, ließ meine Augen feucht werden.
"Wage es ja nicht, zu sterben, Levi!" sagte ich aufgeregt. Er lächelte und ging. Traurig sah ich ihm nach. Was war bloß aus mir geworden?

Jens, Bastian und Auruo kamen auf mich zu. Sie schienen meine Gespräche abgewartet zu haben.
"Ihr habt es bestimmt mitbekommen, Jungs. Ab jetzt steht ihr unter Erwins Kommando und unterstützt ihn beim Angriff auf den Tiertitan!" stotterte ich heraus.
Die Männer stellten sich nebeneinander auf und salutierten. Auruo ergriff das Wort:
"Jawohl, -dN-. Wir waren stets stolz, unter dir dienen zu dürfen.."
Stolz blickte mich mein Trupp an. Es war die Erkenntnis, sich ohne mich opfern zu müssen und sie taten es mit erhobenen Häuptern. Ich senkte meinen Blick. Der Offensivtrupp - er war Geschichte. Ich würde meine drei treuen Kameraden nun in den Tod schicken. Sie verabschieden und geradeaus in die Hölle senden. In meiner Brust schmerzte es. Es schnitt mir förmlich die Luft ab. Ich weinte. Die Arme meiner Kameraden ergriffen mich. Zusammen standen wir nun da und verabschiedeten uns. Sie in den Tod und ich ins Leben. Es war grauenhaft und doch musste ich es akzeptieren. Nicht nur des Befehles wegen sondern auch für das Leben, was ich vielleicht unter meinem Herzen trug. Ich konnte es Levi nicht wegnehmen, auch wenn ich selbst nicht sicher war, ob ich das alles überhaupt wollte.

Mit herunterhängendem Kopf begab ich mich zu den Pferden, die an der Mauer versammelt angebunden standen. Wolke wieherte erfreut. Wahrscheinlich hoffte sie auf einen Ausritt und der damit verbundenen Flucht aus dieser Situation.
Ich sah zu Levi herüber. Er sah fokussiert zu seinem Kommandanten. Sobald der Trupp sich in Bewegung setzen würde, würde auch er losstürmen und sein Vorgehen starten. Doch dieser Plan beinhaltete das Sterben hunderter Soldaten. Ich seufzte.
Sterben ist eine Lücke in der Welt zu hinterlassen, die vorher noch gefüllt, anderen Menschen Zuversicht schenkte. Es ist das Verschwinden einer Person, die Liebe, Freundschaft und Glück empfinden und gegeben hatte. Es ist das Zerreißen eines Daseins, welches in einem einzigen Moment plötzlich fort ist. Jeder meiner Kameraden würde nun einen freien Platz im Sein hinterlassen. Es würden hunderte leere Stühle im Saal des Lebens stehen, die uns den Verlust Tag für Tag bewusst machen würden. Besonders ich würde diese Stühle immer wieder anstarren, im Wissen selbst diesem Schicksal entkommen zu sein. Ich würde zwischen ihnen sitzen und in die Leere blicken, bis irgendwer mich von meinem Sitzplatz herunterreißen und mit sich nehmen würde - in einen neuen Saal voller Hoffnung und Leben. Ich hoffte so sehr, dass dieser jemand Levi sein könnte. Dass er überleben und zu mir zurückkehren würde. Ich hoffte – was war ich bloß für eine Heldin? Statt zu kämpfen, hockte ich an einer Häuserwand und hörte meinen Kameraden beim Sterben zu. Die Steinschläge, die Schreie, das Seufzen und der letzte Wimpernschlag beim Eintreffen des Todes – alles saugte ich in mir auf. Unsicher ließ ich mich an der Häuserwand herunter und kauerte mich zusammen. So fest wie nur möglich drückte ich meine Hände auf meine Ohren, so als würde ich meinen Kopf zerquetschen wollen und vielleicht wollte ich es auch, um den Scharm in mir zu erdrücken. Es schmerzte in meiner Brust. Es brannte in meinem Hirn.
„Bitte kommt zurück..." flüsterte ich, doch ich wusste, dass es eine leere Bitte war. Ich schrie in meinem Kopf – schrie stumm in mich hinein, dass es aufhören möge und ganz plötzlich wurde ich erhört und sie kam: Die Stille, die ich mir so sehr gewünscht hatte, doch andererseits mehr als nichts anderes fürchtete. Sie lag sich über das Schlachtfeld, als sei sie eine Decke, welche meine Kameraden zudeckte. Sie lag sie schlafen und flüsterte ihnen die letzten Träume zu. Ich schluckte. Einmal. Dann ein zweites Mal. Meine Hände wanderten zu meiner Brust und rissen vor ihr am Tuch, welches ich noch immer hielt. Ängstlich setzte ich mich in Bewegung und stand auf. Jetzt in diesem Moment siechten die Letzten meiner Freunde dahin. Einige stöhnten noch auf, andere seufzten sich in den Tod hinein. Vielleicht wich aus ihnen der endgültige Atemzug. Ich wusste es nicht. Doch ich musste mich vergewissern. Mit einem Schuss katapultierte ich mich auf das Dach vor mir und blickte über die Ebene. Es war der Tod, der mir zu wank. Ein Meer aus Leichenteilen breitete sich vor mir aus. Meine Kameraden waren nicht mehr. Es war vorbei.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now