137. Zurückfinden.

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Es dauerte mehrere Stunden bis ich mit meiner Stute den besagten Wald erreichte. Ich trappte den Weg entlang. Ein wenig Staub wehte mir entgegen, sodass ich genervt die Augen zusammenkniff. Die ersten Soldaten, die anscheint den Zugang zum Lager bewachten, nickten mir zu. Sie alle kannten mich, wenn auch ich meine Schwierigkeiten hatten, mich an ihre Namen zu erinnern.

Am Lager angekommen, stieg ich ab und band Wolke an einem Baum an, um auf Levi und Sieg zuzugehen. Die Beiden saßen sich auf Baumstämmen gegenüber und schienen in einem Gespräch vertieft.
„Ich weiß es, weil ich mal gemocht wurde..." ,hörte ich Levi sagen. Meine Augen weiteten sich. Seit wann sprach er über solche Themen und warum wirkte er plötzlich so extrem gebrochen?
„Ach ja? Wann kann ich denn nun Eren sehen und mit dem Experiment beginnen?" ,fragte Sieg nun.
Doch diese Worte interessierten mich nicht. Ich schluckte nur schwerfällig, während ich in mich hineinhorchte. Mein Herz trommelte förmlich in meiner Brust. In meinen Fingern begann es zu kribbeln, sodass ich sie energisch aneinanderrieb, als sei mir kalt.
„Das entscheide nicht ich. Ich warte auf meinen Befehl."

„Ah, Besuch..." ,meinte Sieg, als er mich entdeckte. Ich blickte kurz zu ihm, sah dann jedoch zu Levi, der schweigend zu mir aufblickte. Unsere Blicke trafen sich. Mehr war nicht nötig, dass er aufstand und mich fragte:
„Was gibt es?"

„Können wir woanders reden?" Levi nickte, während er meinem Blick auswich. Was auch immer Sieg zu ihm gesagt hatte, es hatte ihn getroffen – ihn unsicher gemacht – und ich konnte es förmlich aus ihm herauslesen. Er machte sich Sorgen.

Meine Gedanken verdrängend, sah ich zu den Bäumen hinauf. Wahrscheinlich wollte er dort oben mit mir sprechen. Es wäre für uns der perfekte Ort, um schnell eingreifen zu können, wenn Sieg etwas vorhätte und generell den Überblick zu waren. Denn wer wusste schon, was für einen Plan dieser Affenarsch genau verfolgte. Mit zusammengepressten Lippen zeigte ich nach oben und meinte dann nur: „Können wir dort sprechen?"

Levi sah herauf. Seine Augen reflektierten das leicht anfallende Licht, sodass sie kleine, helle Flecken erhielten. Das Blau wirkte an diesen Stellen fast silbern. Schimmernd und glänzend erinnerten sie mich an das Meer, welches ich plötzlich so schmerzlich vermisste. Wann würde ich es wohl wieder sehen können? Würde ich es das nächste Mal ohne ihn sehen?

Wir schossen unsere Haken an die Bäume und flogen empor. Ich ließ ihn den Forttritt, beobachtete, wo er landete, um dann auf dem gleichen breiten Ast nahe dem Stamm runterzugehen.

„Was gibt es?" ,fragte er, nachdem er kurz abgewartet hatte, ob ich diesen Ort kritisieren würde.
„Viel zu viel..." ,stöhnte ich, nur um dann das ganze Durcheinander aufzuzählen:
„Das Militär wird untergraben... Sogar der General wurde ermordet. Eren führt anscheint eine sogenannten Jäger-Fraktion an... Wir gehen davon aus, dass es Siegs Plan war... Aber egal, wer das Ganze beeinflusst, alles gerät außer Kontrolle, Levi..."
„Und weiter?" Levi hörte mir konzentriert zu. Er reagierte nicht auf meine Worte, sondern lauschte ihnen so, als würde ich ihm eine belanglose Geschichte erzählen. Ich atmete tief durch, bevor ich fortfuhr.
„Wir rechnen damit, dass Eren hier auftauchen wird. Pixies versucht einen Plan dagegen zu entwickeln und Vorkehrungen zu treffen. Deswegen hat er auch mich geschickt. Wichtig ist, dass die Jäger-Fraktion sich nicht durchsetzt" ,fügte ich noch hinzu, während ich in den Wald hineinstarrte, um Levi nicht weiter ansehen zu müssen.

Es herrschte kurz Stille. Ich hörte das Rauschen des Windes, das Rascheln der Blätter und sein tiefes Seufzen. Wie von selbst, wanderte mein Blick plötzlich zu ihm. Seine Augen weiteten sich kurz, doch dann wirkten sie auf einmal so unglaublich müde. Resignation – das war es, was ich aus seinem Gesicht herauslass.

Resignation und Reue.

„Dann soll jemand Eren fressen, richtig? Ich habe immer wieder sein Leben gerettet und jedes Mal sind Dutzende meiner Kameraden dabei draufgegangen. Ich tat es in dem Glauben, dass er die einzige Hoffnung der Menschheit sei... Das ist das Letzte..."

Seine Stimme bebte. Ich hörte das Knatschen seiner Handschuhe, als er die Fäuste ballte. Wahrscheinlich drückte er sie viel zu fest zusammen, sodass das Leder spannte. Wütend biss meine Zähne zusammen. Tief in meinem Herzen stach es. Es stach so sehr, dass ich kaum wusste, wie ich es verhindern konnte, zu schreien. Doch statt diesem Druck nachzugeben. Statt meiner Wut noch weiter den Weg in mein Herz zu ermöglichen, griffen meine Hände nach seinen Schultern. Ich zog ihn an mich heran, drückte meinen Körper an seinen, nur um dabei zu merken, dass mir die Tränen kamen, denn ich spürte seinen inneren Schmerz, als könnte ich ihn aus seinen Augen herauslesen.

Er war zerbrochen. Am Ende dieses Weges, den er schon so lange gegangen war. So viele hatte er verloren. So viel geopfert. Vielleicht sogar sich selbst dabei vergessen. Und nun stand er vor einem Scherbenhaufen, den er selbst herbeigeführt hatte – den wir gemeinsam nach und nach entstehen lassen hatten - nur um sich selbst darin wiederzuerkennen. Wir waren alle dieser Haufen an Nichts. Dieses zerstörte Etwas, was niemals mehr heilen würde, sondern nur noch ertragen konnte. Bis zum letzten Augenblick unseres Seins.

Meine Hand grub sich in sein Haar, um sein Gesicht an meinen Hals zu drücken. Seine Nase war so kalt auf meiner Haut. Ich seufzte kurz, als ich seine Hände an meinem Rücken spürte. Als ich bemerkte, wie er mich noch stärker an sich drückte. Als ich wusste, dass wir einander irgendwie wieder finden würden. Vielleicht nicht jetzt und doch sehr bald.

Wie lange verharrten wir so? Wie lange genoss ich das Abfallen des Druckes in mir? Mein Körper wurde warm. Ich empfing dieses Durcheinander, was nun in mir herumwirbelte, ertrug es, um mich selbst zu durchschauen. Ich hatte doch schon so lange darauf gewartet, ihn wieder an mir zu spüren, auch wenn ich wusste, dass ich ihm sein Handeln niemals verzeihen könnte. Meine Sehnsucht war geblieben und mit ihr dieses Gefühl, alles irgendwie überstehen zu können, wenn wir nur wollten.

„Levi, lass uns weitermachen! Einfach weitermachen..." ,stotterte ich. Er nickte, während er sich leicht von mir wegdrückte, um mich anzusehen. Direkt in die Augen, so als wollte er mich etwas fragen. Doch er tat es nicht.

„Was machen wir jetzt mit ihm?" ,meinte ich auf Sieg deutend, um die Stille zwischen uns zu brechen.
„Wir sollten jemanden ihn fressen lassen... Ich lasse nicht zu, dass er noch weiter seinen Willen bekommt" ,seufzte Levi heraus. Sein Blick wanderte wieder zu mir. So unglaublich zögernd und doch verriet er mir, was er wollte.

Und in mir erlosch die Zeit.

Sie war plötzlich fort. Meine Lippen bebten, mein ganzer Körper zog sich zusammen. Noch nie zuvor hatte ich ein solches Zittern in meinem Leib erlebt. Eine solche Sehnsucht und gleichzeitige Angst davor sie zu spüren.

Levis Hand glitt an meiner Wange entlang. Ich stöhnte leise auf, versuchte mir dieses Durcheinander der Gefühle nicht anmerken zulassen. Doch wahrscheinlich war jedes Schauspiel umsonst – fühlte er doch selbst ganz ähnlich.

Seine Augen schlossen sich nicht, als er mein Gesicht an das seine heranführte. Er sah in mich hinein, wollte diesen Hauch von Liebe in mir finden, der irgendwo erstrahlte, nur um mich seine Reue erblicken zu lassen. Denn der Glanz seiner Augen war schon lange fort. Sie wirkten mehr tot als lebendig, trugen mehr Dunkelheit als Licht, doch trotzdem genoss ich ihren Anblick, denn ich wusste, dass sie wieder erstrahlen konnten. Ich wusste, dass wir noch nicht ganz am Ende dieses Weges angekommen waren und dass wir es vielleicht schaffen könnten, unser Schicksal zu lenken.
Wieder gemeinsam.
Wieder Seite an Seite.
Wieder als Gefährten.

Was fühlte er wohl, als seine Lippe ganz leicht die meine streifte? Tobte auch in ihm dieser Sturm, der diese letzte Mauer einreißen wollte? Ich wusste es nicht, doch ich war mir sicher, dass es der bisher schlechteste Kuss war, den wir jemals miteinander erlebt hatten. Und gleichzeitig? Gleichzeitig hatte mein Herz bei seiner Berührung noch nie so wild geklopft. Mein Körper noch nie so gebrannt. Ich noch nie so verlangend in sein Haar gegriffen.

Mir wurde schwindelig, sodass ich mit einer Hand nach dem Baumstamm tastete, um Halt zu finden. Doch dann lehnte ich mich doch nur an ihn, vertraute darauf, dass er mich stützen würde, während ich ihm mehr gab. Mehr als wir vielleicht wollten. Mehr als wir vielleicht ertrugen.

Ich drang mit meiner Zunge in seinen Mund ein, streifte dabei seine zittrigen Lippen, nur um ihn zu schmecken. Er seufzte und klang dabei so unglaublich erleichtert, als wollte er mir damit sagen, dass er nur auf diesen Moment gewartet hatte.

Seit Stunden. Seit Tagen. Nein, wahrscheinlich seit Wochen.

Langsam gewannen unsere Zungen die Orientierung zurück. Ganz behutsam legte sich mein Sturm, um dem Vertrauen Einkehr zu gewähren. Ja, ich würde es wagen. Dieser Kuss war das Zeichen dafür. Kurz getrennt und doch wieder vereint, als wäre es ein Spiel gewesen, doch mein Herz blieb beinah stehen, während ich den Atem anhielt, als sich unsere Lippen voneinander lösten.

„Ich liebe dich..."

Ich stotterte es heraus. Mein Blick zum Boden gerichtet, starrte ich in die Ferne, während ich das Krampfen meiner Schultern spürte. Das mir dieser Satz einmal so schwer von den Lippen gehen würde, hätte ich niemals gedacht. Doch so war es – schmerzhaft und angsterfüllend. Noch nicht mal erwärmend. Doch seine Hand, die meinen Blick leicht anhob. Seine Finger, die fast schon auf meiner Haut kribbelten. Sie ließen mich eine Träne entdecken. Diese eine Träne der Erleichterung, die an seiner Wange entlanglief und mir offenbarte, dass er alles tun würde, um diesen Satz immer und immer wieder zu hören.
„Lass uns einfach weitermachen..." ,wiederholte er meine Worte. Ich nickte, auch wenn ich mich lieber in ihn verloren hätte. Mich ihm gerne hingegeben hätte, um diesen Druck in mir hinfort zu stöhnen. Doch dafür war keine Zeit.

Der Feind saß uns bereits im Nacken. Die Gefahr hielt bereits ihre Fühler aus, suchte nach uns, um im richtigen Moment zuzuschlagen. Ich schluckte schwerfällig, als ich zu Sieg heruntersah. Auch dieser Mann konnte bereits einen Plan aushecken. Auch er war nicht zu unterschätzen.

„Komm!" ,sagte Levi nun. Er legte seine Hand auf meine Schulter, um mit mir herunterzublicken. „Die Bratfratze bringen wir um!" 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now