139. Grenzen vergessen

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"Mir ist kalt...." stöhnte ich an Levi gelehnt. Es regnete stark, als ich aufwachte, sodass ich trotz der schützenden Kapuze die Nässe an meinem Körper spürte. "Wie lange sind wir schon unterwegs?"
"Eine halbe Stunde vielleicht.... Du hast nicht sehr lange geschlafen..." sagte Levi. Er lag seine Hand an meine Stirn, während er mich prüfend ansah. Ich drückte mich an ihn, doch seine Wärme - ich konnte sie kaum fühlen.

Wir saßen auf diesen verdammten Karren. Levi hielt die Zügel der Pferde, die uns nach Stohess bringen sollten. Uns und diesen Affenarsch, der hinten mit einem Donnerpfeil im Bauch auf der Ladefläche lag. Allein der Gedanke daran, bereitete mir Gänsehaut.

Meine Augen tasteten die Umgebung ab. Die Felder um uns herum waren vom Nebel des Regens eingehüllt. Die Sicht nur ein paar Meter weit, sodass man den Weg mehr erahnen als erkennen konnte. Ein Schmerz zog sich durch meinen Hintern. Dieser Karren – er war wie all die anderen das Unbequemste, was die Menschheit je hervorgebracht hatte. Und dennoch holte er in mir alte Erinnerungen hervor.

Die erste Fahrt mit einem solchen Teil, bei der ich mit Lina zusammen genauso wie Sieg transportiert wurde und Levi mich nur genervt angesehen hatte. Ich war damals nicht gerade froh über unsere Begrüßung gewesen und doch hatte ich gewisse Hoffnungen gehegt. Fast schon eine Vorahnung war damals in mir zu spüren gewesen, so als hatte es die kommende Zeit angekündigt. Diese Zeit, die ich mit ihm genossen hatte, auch wenn ich so viel Leid dabei ertragen musste. Irgendwie hatte ich es niemals bereut.

Ein starkes Dröhnen näherte sich plötzlich. Ich sah hinauf, sah dem Regen entgegen und entdeckte sie: Die Flugzeuge, die an uns vorüberrauschten und dabei ein lautes Klingeln in meinen Ohren verursachten. Mein Herz begann zu rasen.
„Was ist das?" ,fragte mich Levi.

„Sie sind da, Levi!" , rief ich nur aus. Ich packte seinen Arm, drückte meine Finger durch sein Hemd in sein Fleisch und grinste ihn an. Meine Wangen schmerzten durch die Freude, die durch meinen Körper quillte.
„Sie ist da! Die Hilfe aus meiner Heimat! Oh, verdammt, sie sind wirklich da!"

Levis Augen sahen mich unglaubwürdig an. In seinem Kopf musste wie in mir ein pures Durcheinander herrschen. Ein Chaos, welches er zu sortieren versuchte, um zu verstehen, was gerade passierte.

Ich wollte ihn bereits vor Freude umarmen, doch sein Blick wanderte kurz zu Sieg und dann zurück zu mir. Es war ein Zeichen. Nein, es war das Zeichen und er hatte Recht: Wir brauchten diesen Affenarsch nicht mehr. Die modernen Flieger aus meiner Heimat würden Eren aufhalten können – zu Not mit aller Gewalt. Die Fähigkeit dieses Mannes, der leise vor sich hin hechelte, war kaum mehr von Bedeutung. Im Gegenteil – jeder Moment, den wir ihn weiter mit uns herumzuschleppen, jede Sekunde, die er hinter uns auf seine Rache wartete, selbst jeder Atemzug von ihm war nun nichts weiter als ein Risiko, welches wir schnellstmöglich auslöschen mussten.

Levis Augen begannen zu flackern. Es brannte in ihm lichterloh. So lange hatte er auf diese eine Chance gewartet. So lange sich zurückgehalten und es ertragen, diesen Mörder ansehen zu müssen. Den Mörder unserer Kameraden und den Schänder seines Kommandanten. Erwin – ich hoffte wirklich, dass du es sehen würdest. Dieses Ende, was nun kommen sollte, um dich und all die anderen Opfer im Kampf um Shiganshina zu rächen und endlich damit abzuschließen – irgendwie und doch niemals.

Die Pferde bleiben stehen. Ein leichter Ruck verkündete das Ende unserer Fahrt. Levi und ich standen langsam auf. Wir sahen beide zu diesem Mann, der gliederlos in einem See aus Blut und Regenwasser verweilte. Sein Anblick widerte mich an. Ich hasste ihn so sehr, dass selbst meine Zehen zu kribbeln begannen. Einfach alles in mir wurde nervös, um bereit zu sein, auch wenn ich Levi den Vortritt lassen würde. Immerhin hatte er ihn ein weiteres Mal besiegt und sich dennoch zurückgehalten. Es war sein Recht, diesem Mann die Kehle aufzuschneiden. Sein Recht, ihn ausbluten zu lassen, zu zerstechen oder was auch immer er mit ihm tun wollte. Ich wollte nicht eingreifen.

Sieg öffnete langsam die Augen. Sein Blick wanderte zwischen uns hin und her, während er immer wacher zu werden schien. Ich seufzte, als Levi einige Schritte auf ihn zuging. Er sah auf den Träger des Tiertitans hinunter. In seinem Gesicht plötzlich keine Emotion mehr zu sehen, so als wollte er der Lust nach Rache keinen Einlass gewähren. So als wollte er sich selbst nicht verlieren. Meine Lippen pressten sich gegeneinander, bis sie sich taub anfühlten. Ich bewunderte es – diese Selbstbeherrschung, die er zu haben schien und die mir immer gefehlt hatte. Diese Kontrolle, die er über seine Gefühle hatte, obwohl es in ihm bebte. Nur einige hatten sie brechen können. Nur einige hatten ihn aus dieser Wand herausgebrochen. Und ich war eine von ihnen gewesen. Ich schluckte schwerfällig, als ich erkennen musste, wie weit ich ihn an jenem Tag unseres Streites getrieben hatte. Wie sehr meine Worte ihn wirklich verletzt haben mussten. Was ich in ihm ausgelöst hatte.

„Ich würde sie retten... diese Kinder, die geboren werden, um die grausame Welt zu erblicken... Ich hätte sie gerettet... Herr Xaver!!!" Das Flüstern unseres Feindes wurde zu einem Schrei. Seine Schwäche wurde zu seiner Stärke. Er wandte sich aggressiv, sodass ich es nur erahnen konnte.

Doch dann blieb die Zeit stehen – ganz plötzlich. Die einzelnen Regentropfen – sie schwebten an mir vorbei wie Luftblasen im Wasser. Ich sah, diesen kleinen Haken, der sich vom Donnerspeer löste. Erkannte, wie dies der letzte Angriff unseres Gegenübers sein würde und was es für uns bedeute.

Und ich handelte.

Meine Füße bewegten sich wie von allein nach vorn. Meine Hände griffen nach diesen Schultern, an die ich mich immer so gern gelehnt hatte. Ich stand vor ihm. Vor meinem Mann, der mich mit seinen blauen Augen starr anblickte. Die Angst - sie stieg in ihm auf, um mir ins Gesicht zu schreien. Doch um uns blieb es still. Wie mir war auch Levi bereits jetzt bewusst, was geschehen würde. Ich packte ihn mit meinen Armen. Drückte meinen Körper an seinen und ließ ihm keine Wahl.

„Es tut mir leid..." ,dachte ich noch, doch diese Worte kamen mir nicht mehr von den Lippen. Denn ich war es, die nicht anders konnte. Energisch stieß ich meine Stirn gegen seine. Unsere Blicke verschmolzen - ein letztes Mal. Ich lächelte. Am Ende würde ich ihm nicht den Rücken zudrehen und gehen. Am Ende musste er mir nicht nachschauen. Denn mein Ende fand hier statt. Hier, wo alles zwischen uns begonnen hatte. Hier auf dieser Insel, die uns zusammengeführt hatte. Zwei Menschen aus unterschiedlichen Welten, die einander eigentlich nie hätten begegnen sollen. Doch wir hatten dieses Glück erleben dürfen und wir hatten es genossen. Ich bereute es einfach nicht.

Nicht ein bisschen.

Die Explosion - sie holte uns nun ein. Die Druckwelle - sie riss uns fort. Die Realität drehte sich um uns herum, bis die Welt nur noch aus dunklen Farben bestand. Meine Hände verkrampften sich ineinander. Ich wollte Levi nicht loslassen, doch plötzlich spürte ich meine Arme nicht mehr. Plötzlich schienen sie sich aufzulösen, so wie es mein gesamter Körper tat und ein Stechen drückte sich durch das Fleisch, was noch übrig schien. Durch den letzten Rest meines Seins.

Es war ein dumpfer Knall, der den Aufprall meines Körpers auf dem Boden begleitete. Ein kurzer Moment der Dunkelheit, bis das Licht zurückkehrte. Ich starrte in den Himmel hinein. Der Regen ließ sich auf mir nieder, um mich zu kühlen. Ein Mantel aus Schmerzen trug ich nun - er zeigte mir, dass ich noch lebte. Er bewies mir, dass ich noch war – irgendwie.

Ich bewegte meine Augen, um meine Umgebung zu mustern. Wo genau war ich? Was von mir war noch übrig? Ich wusste es nicht. Doch dann entdeckte ich seinen Schatten - Levi - er kam langsam auf mich zu.
"Warum tust du mir das an?" flüsterte er, als er neben mir kniete. Sein Gesicht beugte sich über das Meine. Seine Augen sahen in mich hinein. Vorsichtig nahm er mein Gesicht in seine Hände und drückte seine Stirn an meine. "Warum?"
Ich seufzte - zu mehr war ich nicht im Stande. Und selbst wenn, was hätte ich ihm sagen können? Was hätte ihn trösten können? Was?

Es waren seine Arme, die meinen Körper griffen und mich langsam aus dem kalten Gras hoben. Mein Körper zerlief in seinen Händen. Er hielt nichts mehr in sich, hielt mich nicht mehr zusammen, sondern zerfiel wie eine Pusteblume im Wind.

In meinem Kopf herrschte ein Rauschen, so als könnte ich das Meer irgendwo in der Ferne erahnen. Doch seine Worte brachen es, verdrängten es förmlich, um es mir ein letztes Mal zu offenbaren.
„Ich liebe dich..."
Seine bebende Stimme hallte in meinem Hirn. Es war ein Abschied. Es war unser Abschied.

Ich spürte die warmen Tropfen in meinem Gesicht, die die kalten Nadelstiche des Regens unterbrachen. Seine Wärme – er ließ sie auf mich niedertropfen und zeigte mir dabei, wie sehr es ihn verletzte, mich so halten zu müssen. Wie sehr es ihn zerstörte, es mit ansehen zu müssen. Diesen Moment, in dem ich ging. Doch er tat es ohne zu zögern.

Sein Duft – er war das Letzte, was ich noch wahrnehmen konnte. Dann als meine Sicht bereits zerfiel und die Geräusche um mich herum verstummten.

Sandelholz – es begleitete mich hinüber. Dorthin, wo ich nun sein würde. Dorthin, wo wir alle einmal sein würden. Dorthin, wo auch er eines Tages sein würde – doch das war nun bedeutungslos. Er war noch da. Er war noch am Leben. Er würde weiter sein. Das war alles was zählte. Das war alles. Alles, was ich verlangte.
In dieser letzten Sekunde meines Seins.



Doch nach der Dunkelheit folgt immer wieder das Licht. Nach dem Tod kommt nicht das Ende.

Ich schreite diesen Weg entlang – diesen Tunnel und frage mich, was du jetzt tust. Hältst du noch immer diesen kalten Körper, um ihn ein letztes Mal zu spüren?
Das Licht kommt mir näher – wirfst du meine Hülle in den Fluss, um ihm wie versprochen die Freiheit zu schenken? Und was wirst du dabei fühlen?
Es wärmt mich von innen, erfüllt mich förmlich - was wirst du sagen, wenn du Hanji begegnest und sie erkennen wird, dass du mich zurücklassen musstest? Wie werden dann deine Augen sie anschauen?

Ich weiß es nicht und ich bin froh darüber, denn wenn ich es mit ansehen müsste, würde mein Herz zerreißen. Würde ich doch erkennen, dass ich dich nicht mehr tröstend in die Arme schließen kann. Dass ich dich niemals mehr küssen werde. Dass unsere Nähe nur noch Erinnerungen sind. Erinnerungen, die für uns beide ein Licht sein sollten, wo auch immer wir sind.

Es sind Hände, die plötzlich aus dem Licht heraus nach mir greifen. Willkommen heißende Gesichter, die mich hier im ewigen Leuchten erwartet haben.
Petra, Gunther, Eld, Jens, Basti, Auruo, selbst Mike und Erwin haben auf mich gewartet – die ganze Zeit. Hier bei ihnen zu sein, lässt mich lächeln. Hier bei all jenen zu sein, die uns begleitet hatten, lässt mich meinen Hass vergessen. Diesen Hass, der in jenem Krieg mein ständiger Begleiter war und dem wir bei seinem Ende beobachten werden. Wieder gemeinsam. Wieder als Kameraden.

Diese Gedanken lassen mich zur Ruhe finden, auch wenn es schmerzt, zu wissen, dass ich dieses Ende mit dir nicht mehr erleben konnte. Doch du – du wirst sie genießen können. Diese Zeiten des Friedens, die dann folgt. Du wirst sie mit Kuchel entdecken können. Diese Welt, die immer wieder mit dem Wind nach dir gerufen hatte. Und dann wirst du es erkennen: Dass dein Leben noch einen Sinn hat. Einen Sinn ohne Blutvergießen und ohne Gewalt.

Wer wirst du dann sein - Levi?

Ich glaube, du wirst ein guter Vater, ein guter Freund und, so hoffe ich selbst dies, ein guter Partner sein. Ein Mensch, der nicht allein sein wird. Ein Mann, der immer noch seinen Träumen nachgeht, auch wenn er in sich so viel Dunkelheit trägt. Diese Dunkelheit, die ihn bis an sein Lebensende begleiten wird. Bis an dieses Ende, welches dich zu uns führen wird.

Und ich? Ich werde auf dich warten – als eine von euch. Als eine Frau, die die Grenzen zwischen uns und euch schon lange vergessen hatte. Diese Grenzen zwischen den Völkern. Diese drei Mauern zwischen dir und mir. Und wenn wir Glück haben, Levi, aber nur wenn wir es haben, werden diese Grenzen ein weiteres Mal verschwinden, um uns irgendwo – in einem anderen Sein - eine weitere Chance zu geben. Um uns irgendwo ein weiteres Mal diese Kluft zwischen den Völkern überspringen zu lassen. Um gemeinsam zu sein und gemeinsam zu leben. Irgendwo, wo wir es dürfen. 

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now