76. Selbstzweifel

289 19 0
                                    

„Gib ihm seine Zeit..." flüsterte Hanji mir ins Ohr und lag ihre Hand auf meine Schulter. Ich blickte zu ihr. Auch in ihrem Gesicht war ein tiefer Schatten zu erkennen. Ich sah es ihr an: Sie vermisste diesen willensstarken Kommandanten, der ihr und Levi jahrelang den richtigen Weg aufgezeigt hatte. Nun selbst eine Orientierung in dem Chaos dieser Welt zu finden, war die erste Herausforderung auf dem Pfad ihrer neuen Pflicht. Unsicher nickte ich.
„Ich weiß, Hanji..." äußerte ich, während ich meinen Ärmel noch stärker in mein Gesicht drückte. Der Gestank der Verwesung schwappte über die Karren hinaus und verbreitete sich in der Stadt. Viele Menschen hielten sich bereits Tücher vor die Nase. Einige versuchten aus einer sicheren Entfernung unser Vorgehen zu beobachten, aber auch sie nahmen den Geruch langsam war. Ich hustete auf. Auch meine Übelkeit wurde von diesem süßlichen Duft vorangetrieben, der sich durch den Stoff in meine Nase drängte. Levi sah zu mir auf. Erst jetzt schien er mich zu bemerken und aus seinen Gedanken zu erwachen. Doch Hanji wandte sich bereits an mich:
„Du kannst hier wenig tun, -dN-. Hol bitte Sasha aus dem Krankenhaus ab! Sie wird heute entlassen." erklärte die Braunhaarige und schob mich ein wenig voran.
„Jawohl..." gab ich nur von mir und ging. Ich sah nicht zurück. Ich wollte es einfach nicht. Weder den Toten, noch meinen lebendigen Kameraden oder gar Levi konnte ich hier eine Hilfe sein. Ich war einfach nutzlos. Schwerfällig schluckte ich und drückte mich durch die Mengenmenge. Es war das erste Mal, dass ich hier auf Paradies das Gefühl hatte, überflüssig zu sein und es schmerzte mich. Egal ob ich mich machtlos, nicht dazugehörig oder gar allein gefühlt hatte, nichts war so belastend wie die Einsicht, nicht gebraucht zu werden. Mein Sichtfeld wurde schwammig. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Doch keine von ihnen traute sich, ihren Weg des Kummers zu beginnen. Keine verließ mich – so als wollten sie mich erblinden lassen, um die Wahrheit nicht weiter erkennen zu müssen.
„-dN-!" Es war Levis Stimme, die mich rief. Irgendwo aus der Menge heraus hallte sie. Er suchte nach mir – einmal wieder. Er folgte mir, so wie er es schon einige Male getan hatte. Doch er fand mich nicht, denn ich hörte einfach nicht hin. Ich wollte ihm dieses Ich von mir nicht zeigen. Das Ich, welches sich selbst bemitleidete, obwohl es so viele andere Dinge gab, um die ich viel trauriger hätte sein müssen. Die Scham stieg in mir auf. Sie packte mich an meinen Hals und begann ihn langsam aber kräftig zuzudrücken. Ich schnappte nach Luft. Mein Herz raste. Eilig setzte ich einen Schritt vor dem anderen und rannte vor meinen eigenen Gefühlen davon. Aber ich konnte nicht fliehen – sie hatten sich in mein Hirn verankert und zeigte mir, was für ein Mensch ich wirklich war: Eine Egoistin oder, wie Levi es genannt hatte, ein Miststück.

Mein Gang beschleunigte sich. Ich rannte um eine Ecke in die Straße, in der sich das Krankenhaus befand und erblickte sie: Sasha. Sie stand vor dem Gebäude mit einer kleinen Tasche und schien an einem Brot zu knabbern. Unsicher blickte sie sich um und wank mir zu, als sie mich entdeckte. Sie grinste.
„Truppenführerin -dN-, schön euch zu sehen." sagte sie und biss in das Gebäck. Doch ihr Blick verfinsterte sich, „ist bei euch alles in Ordnung?" Ich nickte.
„Keine Sorge, Sasha. Ich bin nur etwas aus der Puste."
„Aber ihr weint...." Die junge Frau starrte mich an. Nervös fummelte ich an meinem Verband und spürte wie mein Herz und mein Atem langsam zur Ruhe kam. Was war das grade eben gewesen? Meine Emotionen schienen mich vollkommen übermannt zu haben, so als hätten sie meinen Geist wie ein Orkan hin fortgerissen. Ich dachte an Levi. Was wollte er eben von mir?
„Truppenführerin...?" Sasha riss mich aus meinen Gedanken. Sie zeigte auf meine Verbände, an denen ich noch immer knibbelte. „Wollt ihr euch die nicht mal abnehmen lassen?" fragte sie und stopfte sich dabei das letzte Stückchen in den Mund.
„Ja, vielleicht sollte ich das mal." sagte ich leise.
„Na dann los!" rief Sasha aus und griff nach mir. Sie zog mich in das Gebäude herein und sprach einen Arzt an, welchen sie zu kennen schien. Der große Mann nickte freundlich und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Seufzend ging ich mit ihm in ein Behandlungszimmer, in welchem auch Sasha auf einem Hocker Platz nahm und geduldig wartete.
„Ringfinger – zwei Glieder, Mittel- und Zeigefinger jeweils nur noch ein Glied." diktierte er der blonden Arzthelferin, die fleißig schrieb. „Das Ganze ist recht gut geheilt. Wie fühlt sich das an?" Er strich mit seiner Hand an den Fingerenden entlang und prüfte meinen Blick.
„Komisch..."
„Geht das auch etwas genauer?"
„Es kitzelt ein wenig und tut noch etwas weh." stöhnte ich heraus.
„Gut. Solange ihr kein Brennen oder einen starken Schmerz empfindet, solltet ihr keinen weiteren Verband anlegen lassen. Ich werde euch noch eine Salbe mitgeben. Die Rechnung geht an den Aufklärungstrupp, richtig?" Ich nickte und nahm das kleine Glas, welches die Creme enthielt, an mich. „Immer gut einreiben, damit sich die Haut gut entwickelt!" verabschiedete uns der Arzt, sodass Sasha und ich das Krankenhaus verließen.

„Sasha!" rief Connie aus, als wir das Gasthaus betraten. Er und Jean umarmten die junge Frau und begrüßten sie herzlich. Die Drei waren über die Monate ein unglaublich geschlossenes Team geworden und standen füreinander grade. Ich lächelte ein wenig. Es war ähnlich wie bei Eren, Armin und Mikasa eine innige Verbindung zwischen diesen jungen Menschen. Eine Verbindung, die sie sicherlich benötigten, um das ganze Leid ertragen zu können.
„Ah -dN-, danke fürs Abholen." begrüßte mich Hanji. Ich nickte ihr zu.
„Ist Levi auch bereits hier?" fragte ich meine Freundin, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Hat er dich nicht mehr gefunden? Er wollte dir Bescheid sagen, dass er nach Mitras weiterreist. Die Leiche von Erwin muss beerdigt werden. Der Verwesungsprozess ist schon...." Hanji hielt inne als sie meinen Blick sah. Ich starrte auf den Boden.
„Warum bin ich bloß weggelaufen?" fragte ich mich. Nun würde ich ihn weitere Tage weder sehen noch sprechen können und hatte auch ihm die Möglichkeit genommen, sich zu erklären. Ich seufzte.
„Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist...." stöhnte ich heraus. Hanji lachte.
„Du bist einfach vollkommen durch den Wind und hast keine Geduld mit dir – das ist los. Wenn das so weiter geht, muss ich dir Urlaub anordnen – nein, warte – Ich ordne dir hiermit Urlaub an!" Ich starrte Hanji erschrocken an.
„Was? Das ist nicht..."
„Doch, das ist nötig. Du reist sofort nach Mitras und sagst Levi ebenfalls, dass er sich drei Tage von seinen Pflichten befreien soll! Und dann kommst du bitte gefasst und erholt wieder zurück!" schimpfte Hanji schon fast. Doch ihr Lächeln verriet mir, dass sie weder sauer noch genervt war. Es war eher ihre Art und Weise, mir Raum und Zeit für die Dinge zu geben, die ich vielleicht brauchte. „Nun los, geh schon packen!" Hanji schubste mich die Treppe hinauf. Unsicher stolperte ich in mein Zimmer. Ich sah mich um und griff einfach nach allem, was mir in die Hände kam. Eilig riss ich diese Uniform, die mich nur an das Leid der letzten Mission erinnerte von mir, und zog mir eine schwarze Hose und einen weiten Pullover über. Dann warf ich meinen Mantel über und verließ das Gasthaus, um mit Wolke Richtung Norden zu reiten.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt