113. Die Motte und der Mond

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Die weitere Überfahrt nach Paradies verlief reibungslos. Wir hatten das Festland hinter uns gelassen und kehrten zurück auf diese Insel, die für die meisten von uns mittlerweile wie ein Gefängnis schien, wenn sie auch unser Zuhause war.

Levi und ich verließen gemeinsam das Schiff. Genervt fasste ich mir an meinen rechten Arm. Es war ein Ziehen, welches sich bemerkbar machte und mir damit viel zu ehrlich zeigte, dass ich meinen Körper zu stark beansprucht hatte. Es erinnerte mich daran, dass ich vor mehr als zwei Jahren besser in Form gewesen war. Damals hatte ich mich ohne Zögern jedem und allem gestellt, ohne auch nur ein Muskelzucken zu spüren. Doch heute fühlte ich mich beinah wie eine alte Frau. Ich stöhnte bei dieser Erkenntnis.

"Mama!" schallte es über den Strand hinweg. Nur einige Meter von uns entfernt saß Carolin auf einer Decke, um Lukas und Kuchel zu beschäftigen. Letztere hatte uns entdeckt. Die kurzen Ärmchen schwangen in der Luft, als die Kleine auf uns zu lief. Sie war sichtlich erfreut.

Levi ging seiner Tochter einige Schritte entgegen, um sich daraufhin in die Hocke zu begeben. Er streckte seinen Arm leicht aus, um Kuchel zu bremsen.
"Vorsichtig... Du kannst uns gerade nicht umarmen." erklärte er. Seine Stimme klang beinah traurig.
"Papa hoch...!" schimpfte Kuchel nun. Ein leichtes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Meine Tochter wusste bereits jetzt, was sie wollte und sie versuchte es durchzusetzen. Egal, was es kostete.

Mir war bewusst, dass viele Leute diese Eigenschaft als unangenehm beschreiben würden. Vielleicht würde der ein oder andere dieses kleine Mädchen auch als unerzogenes Gör bezeichnen. Es war einer dieser Aussagen, die ich selbst oft zu hören bekommen hatte. Einer dieser Bezeichnungen, die man mir entgegengeworfen hatte, um mir beizubringen, dass man als Mädchen oder auch junge Frau anpassungsfähig sein sollte. Doch ich hatte nie etwas davon gehalten und ich tat es auch heute nicht.

So wie Kuchel nun vor ihrem Vater stand, um ihm deutlich zu machen, was sie wollte. So wie sie mit ihren Händen herumwirbelte, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. So machte sie mich unglaublich stolz.

Unbewusst ging ich auf sie zu und strich ihr über den Kopf. Sie blickte zu mir hinauf und sah mich an. Dieser Glanz in ihren Augen - er war der Gleiche, den Levi in sich trug. Es kribbelte in meiner Brust. Immer häufiger entdeckte ich einen Teil von ihm in ihr. Einen Teil, der mir sagte, dass sie eine Ackermann war. Doch wenn ich ganz genau hinblickte - wenn ich sie musterte - dann sah ich auch mich selbst in ihr. Irgendwo in dieser Gestik, die sie in diesem Moment an den Tag lag.

„Entschuldigung..." stotterte Carolin, die nun angerannt kam, um Kuchel einzufangen.
"Schon gut." meinte Levi. "Wir werden uns waschen müssen und kurz schlafen. Gegen Mittag können wir dir Kuchel wieder abnehmen." Ich seufzte. "Kurz Schlafen" klang für meinen Geschmack nach viel zu wenig, doch ich widersprach nicht, sondern folgte ihm schweigend.


Nachdem wir die Badewanne schnell hinter uns gelassen hatten, saß Levi auf dem Bett und beobachtete mich dabei, wie ich ein Shirt überzog. Ich erkannte sein Verhalten: Er wartete geduldig.
"Soll ich dir die Risse nähen?" fragte ich, wobei ich bereits das Nähzeug aus der Schublade holte. Er nickte nur.

Ich setzte mich neben ich, um daraufhin über seinen Arm zu streichen. Mein Blick wanderte an ihm entlang, musterte das einfallende Sonnenlicht auf seinem Rücken und die Schatten, die es dabei verursachte. Dieses Spiel von Licht und Dunkelheit auf seinem nackten Körper zu betrachten, ließ die Hitze in meine Wangen steigen. Selbst so müde wie ich war, konnte ich es kaum ignorieren.

„Ich würde viel lieber was anderes machen..." seufzte ich, als ich den ersten Stich an seinem Oberarm setzte. Der Riss, den ich versorge, war tiefer als gedacht und dennoch - er blutete kaum. Ein wenig skeptisch untersuchte ich ihn und stach dann ein weiteres Mal in Levis Haut. Sie war unglaublich fest, obwohl sie meist so zart wirkte.

„Irgendwie sind deine Wunden anders..." flüsterte ich. Levi schaute mich mit geweiteten Augen an. "Wer weiß, welche Fähigkeiten du alles besitzt." fügte ich hinzu, während ich das Garn knotete, bevor ich von seinem Arm aufsah. Stumm blickten wir einander an. Jeder in seinen eigenen Gedankengängen verirrt. In einem Labyrinth aus Fragen, Zweifel, vielleicht sogar Ängsten. Wie fühlte er sich wohl? Das fragte ich mich ganz plötzlich, als seine Hand bereits meine Wange berührte.

Einsam.

Es war wahrscheinlich die Antwort darauf, die ich schmeckte, als er mich küsste und mich zu sich zog. Seine Sehnsucht: Sie hallte in meinem Kopf.

Levi suchte nach Halt. Die ganze Reise, das Gesehene, das Erlebte – das alles überforderte ihn sicherlich. Diesen Mann, der irgendwo unter der Erde geboren worden war, doch erst viel später die Sonne erblickt hatte. Er, für den der Himmel einem Wunder glich, erduldete diese Last, um ohne zu zögern, an meiner Seite weiterzugehen und gemeinsam voranzuschreiten.

Ich drückte ihn auf unser Bett, wobei ich meine Lippen von seinen löste. Den wollenden Blick entdeckend, musterte ich sein Gesicht, welches von seinem Haar umspielt wurde.

„Ich liebe dich..."

Dieser Satz war meine Einsicht darüber, wie ich empfand, doch ich sagte ihn, um ihm Gewissheit zu schenken. Vielleicht sogar Kraft zu geben. Egal was – es sollte das sein, was er brauchte.

„Ich weiß." seufzte er, nur um mich im gleichen Moment an sich zu drücken. Er küsste mein Lächeln hinfort, küsste mich, bis ich nur noch ein Stöhnen von mir gab.

Obwohl ich es war, die ihm Zuversicht schenken wollte, gab er sie mir.
Obwohl ich ihm gesagt hatte, was ich empfand, zeigte er mir seine Gefühle ohne Worte. Einfach nur mit seinen Lippen, seinem Körper und seinem Blick.

Wie oft hatte ich mich ihm hingegeben? Wie oft diesen Mann genossen und von ihm gekostet?
Und dennoch war es nie genug.

Es ging mir wie ihm. Ich trachtete nach seinem Körper wie eine Motte, die das erste Mal das Licht des Mondes erblickt hatte und ihm entgegenflog, nur um sich darin zu verlieren. Ich genoss es, sein Licht zu sein, so wie er das meine war. Denn diese Momente, in denen alles um uns herum verschwand, waren jene, die ich nicht vergessen würde. Die ich mit mir nehmen würde – egal wohin. Und wenn er meinen Namen seufzte, ihn mir wollend entgegenstöhnte, wusste ich, dass auch ich mich in ihn eingebrannt hatte. Irgendwo tief in seinem Herzen. In seinem Geist. Vielleicht sogar in seinem Sein.

Grenzen vergessen Levi x ReaderWhere stories live. Discover now