1

476 22 7
                                    

Annalena

„Sorry, aber ich komme doch nicht. Bin krank. Hab viel Spaß."
Ich starrte verzweifelt auf das Display meines Handys, obwohl ich nichts sah. Ich hörte die Sprachnachricht noch einmal an, aber die Info blieb gleich. Es kam auch keine neue Nachricht. Jetzt stand ich hier. Mitten in Berlin. Alleine. Blind.
Was bitte sollte ich alleine auf einem Konzert? Für Lara war ich hergekommen. Sie wollte mit mir gemeinsam auf das Konzert gehen. Ich kannte nicht einen Song, geschweige denn den Künstler. Deutsch-Pop sollte es sein, soweit war ich informiert. Und der Sänger war Single und angeblich ziemlich heiß und süß. Ob dem so war, wusste ich nicht und Laras Beschreibungen waren nicht hilfreich. Sie erzählte immer nur, dass er unfassbar gut aussah, ein tolles Sixpack hatte und Single war. Darunter konnte ich mir so alles und nichts vorstellen. Google hatte leider noch keine detaillierte Bildbeschreibung.
„Google, wie spät ist es?", fragte ich mein Handy.
„Es ist 18 Uhr", antwortete mein Telefon.
Ich wusste, dass in einer halben Stunde der Einlass begann und bekam langsam Panik. Ganz auf mich allein gestellt wusste ich nicht, wie ich das Konzert überleben sollte. Vor allem hatte Lara darauf bestanden, dass wir mal keine Sitzplätze hatten. Also musste ich in die Menge. In großen Menschenmengen verlor ich immer schnell die Orientierung. Normalerweise war ich deshalb niemals alleine unterwegs. Mindestens mein Begleithund Fritz begleitete mich in der Regel. Nur heute hatte ich mich auf Lara verlassen. Vergeblich. Natürlich konnte ich einfach wieder nach Hause fahren, was vermutlich die klügste Idee war.
„Du hast eine neue Nachricht", meldete sich mein Telefon zu Wort.
„Öffne die Nachricht", sagte ich.
„Neue Nachricht von Lara wird abgespielt."
„Ach Anna, bitte geh wirklich hin. Ich weiß, es ist doof so alleine, aber bitte tu es für mich. Schick wenigstens Sprachaufnahmen. Videos sind ja schwer für dich. Danke. Ich denk ganz fest an dich. Bist eine super Freundin. Küsschen."
Ich seufzte. Lara hatte so viel für mich getan, dass ich ihr diesen einen Wunsch wohl erfüllen musste. Irgendwie würde ich es schon schaffen.
Der Einlass verlief sogar recht unkompliziert. Nun musste ich mich nur noch in der Halle zurechtfinden. Das würde definitiv schwerer werden, denn Lara hatte mir verraten, dass hier 10.000 Menschen waren. Mein Puls stieg automatisch, als ich mich langsam Richtung Saal treiben ließ. Um mich herum herrschte das reinste Stimmengewirr und irgendwo hörte ich leise Musik. Das alles verwirrte mich und ich fluchte innerlich.
„Du tust das alles für Lara. Anna, du schaffst das schon", sagte ich mir leise wie ein Mantra vor.
Ich brauchte dringend eine Pause, weswegen ich mich ein wenig von der lauten Masse entfernte. Ich lief einfach weiter, eine Hand immer an der Wand zur Orientierung.
„Hey", sagte plötzlich eine männliche, freundliche Stimme und ich blieb stehen.
„Kann man dir helfen?"
Ich spürte einen fragenden Blick auf mir.
„Nein", antwortete ich. Gut, das war gelogen, aber ich war unsicher. Mit Männern hatte ich so meine Erfahrungen und die waren nicht gerade positiv.
„Bist du sicher?"
Der Mann schien hartnäckig zu sein. Aber seine Stimme war immer noch freundiich und ein bisschen besorgt.
Mein Herz klopfte in meiner Brust und ich hoffte, dass er es nicht hörte. Ich war es absolut nicht gewohnt, dass sich fremde Menschen um mich sorgten. Und bei Männern war mir das noch unbekannter. Also abgesehen von meiner Familie hatte ich bisher nur das Gegenteil erlebt.
„Ich komme klar", sagte ich, aber meine Stimme zitterte leicht. Ehrlich gesagt war ich nämlich maßlos überfordert.
„Willst du zum Konzert?", fragte der Mann.
Irgendwie hätte ich gerne gewusst, wer da vor mir stand und mir helfen wollte. Nie Bilder vor Augen zu haben, war für mich noch immer schwer. Obwohl ich mit der Blindheit aufgewachsen war, verfluchte ich sie immer wieder. Von Lara wusste ich, wie wichtig Mimik und Gestik waren.
„Ja. Ich brauchte nur kurz..."
„Ruhe?"
Konnte er Gedanken lesen?
„Ja."
„Darf ich wissen, wie du heißt?"
Ich zögerte.
„Du musst es nicht sagen. Ich fänd es nur schön, wenn ich dich richtig ansprechen könnte." Seine Stimme war noch immer so super freundlich. Er drängte sich nicht auf, sondern gab mir Raum.
„Annalena. Aber bitte sag Anna", erwiderte ich.
„Ich bin Stefan", stellte er sich vor. „Soll ich dich im den Zuschauerraum bringen oder brauchst du noch einen Moment?"
„Geht schon. Den Weg finde ich." Hoffentlich.
„Ich muss da eh lang. Wenn du willst, kann ich dich auch begleiten. Hier verläuft man sich schnell", sagte er und klang absolut ehrlich. Er kannte sich hier ganz offensichtlich besser aus als ich.
„Okay. Danke."
„Willst du eine Hand haben?" Stefan schien schon bemerkt zu haben, dass ich blind war, kommentierte es aber nicht weiter.
„Das wäre gut", gab ich zu.
„Dann komm." Seine Stimme klang näher und im nächsten Moment spürte ich seine Hand an meiner.
Ich zuckte automatisch ein wenig zusammen.
„Keine Sorge, ich bin es nur", beruhigte Stefan mich und nahm meine Hand.
Ich hielt mich an ihm fest und ließ mich führen.
„Achtung. Es wird wieder lauter und gleich müssen wir nach rechts."
Ich wusste nicht, ob Stefan schon Erfahrungen hatte oder instinktiv handelte. Auf jeden Fall war seine Warnung absolut richtig.
„Hallo Stefan."
„Moin."
„Ah, Stefan."
„Wieso bist du nicht am Merchstand?"
„Hey, lange nicht gesehen."
Ich war absolut verwirrt. Arbeitete er hier? Gut, deswegen kannte er sich aus. Hielt ich ihn von der Arbeit ab? Das wollte ich auf keinen Fall. Aber ich war dankbar für seine Hilfe. Und er hatte sie angeboten. Also war es in Ordnung. Oder? Sollte ich besser alleine weiter?
Ständig wurde Stefan angesprochen und ich versank in Stimmengewirr. Von rechts und links prasselten Fragen und Grüße auf meinen Helfer ein und ich spürte fragende und abschätzige Blick auf mir.
Eins musste man Stefan aber lassen, er war zuverlässig. Statt auf die ganzen Menschen um uns einzugehen, dirigierte er mich durch die Menge.
„Ich bringe dich am besten zum FOH. Rund um die Technik steht ein Gitter, da kannst du dich festhalten", erklärte er mir und kam näher an mein Ohr, damit ich ihn verstand.
Ich nickte nur, denn ich war noch immer überfordert von der ganzen Situation.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now