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Wincent

Anna saß einfach nur auf dem sicherlich kalten Fliesenfußboden des Badezimmers und sprach mit der Luft. Zumindest war niemand anderes hier. Ich war kurz echt überfordert, denn so etwas hatte ich noch nie erlebt.
„Anna?", versuchte ich dann ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Leider erfolglos.
Sie starrte weiter die gegenüberliegende Wand an. „Hau endlich ab! Ich komme ohne dich zurecht. Martha! Was willst du noch von mir? Lass mich!", murmelte sie leise, aber dennoch mit leicht verzweifeltem Unterton vor sich hin.
„Anna?", versuchte ich es noch einmal.
Wieder keine Reaktion.
Also setzte ich mich neben sie auf den Boden und tippte ihr vorsichtig auf die Schulter. Allerdings reagierte sie auch darauf nicht, also dachte ich nochmal nach. Ich setzte mich zwischen sie und ihre imaginäre Gesprächspartnerin und in diesem Moment bekam ich Annas Aufmerksamkeit.
„Wincent", hauchte sie.
Ich sah ihr nur ganz kurz ins Gesicht und zog sie dann einfach in meine Arme. Dass es ihr nicht gut ging, hätte ich vermutlich sogar blind gemerkt.
„Es ist alles gut, ich bin hier", flüsterte ich Anna zu.
Sie fing an zu weinen und ich hielt sie einfach nur fest. Mehr konnte ich gerade vermutlich sowieso nicht tun.
Mich ließ der Gedanke nicht los, dass Anna meinetwegen überfordert war und das Drama so wieder aufkam. Das wäre ziemlich blöd. Ich wollte Anna nicht so überfallen.
Ich fuhr mir verzweifelt mit einer Hand durchs Haar, während die andere auf Annas Rücken liegen blieb.
Das Klopfen an der Tür nahm ich nur halb wahr, weswegen ich erschrocken zusammen zuckte, als hinter mir auf einmal eine Stimme ertönte.
„Wince?"
Ich drehte mich halb zu Marco um, der nicht ganz zu wissen schien, was hier vor sich ging. Damit waren wir ja dann schon zu zweit, beziehungsweise dritt, wenn man Fritz mitzählte.
„Alles klar bei euch?" Mein bester Freund sah mich fragend an.
„Ähm... Ich weiß nicht..."
„Wenn du mir sagst, was ich machen soll, kann ich dir helfen."
„Kannst du zufällig Gedanken lesen?"
Marcos Gesichtsausdruck war unbezahlbar, dabei war mir das nur rausgerutscht.
„Ähm, kannst du die Sachen vom Bett räumen? Ich will Anna nicht alleine lassen."
„Klar." Marco verschwand aus dem Türrahmen und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Anna zu.
Sie war ruhiger geworden und das ließ mich aufatmen.
„Willst du dich alleine fertig machen?", fragte ich sie leise.
Anna schüttelte nur den Kopf.
„Okay." Ich wollte sie nicht zwingen. „Dann geht es so ins Bett. Nicht erschrecken."

Annalena

Diesen Satz hatte ich heute doch schon einmal von ihm gehört. Und dann kam nach dem schönsten Moment meines bisherigen Lebens dieser ganze Scheiß zurück.
Ich verstand absolut nicht, warum Wincent das jedes Mal wieder tat und doch war ich einfach mehr als dankbar für seine Anwesenheit.
Wincent hob mich vorsichtig hoch und trug mich zum Bett, wo er mich sanft ablegte. Dann deckte er mich behutsam zu und gab mir noch einen Kuss auf die Stirn.
„Kannst du hierbleiben?", fragte ich leise, denn ich wollte auf keinen Fall alleine sein.
Dann würden nämlich diese ganzen Gedanken zurückkommen und ich wusste, aus diesem Loch kam ich nicht einfach raus. Ich wollte das nicht. Weder Martha, wie ich meine Magersucht damals getauft hatte, noch dieses ganze Drumherum. Die Therapiestunden bei der Psychologin, der Aufenthalt in der Klinik, das wochen-und monatelange Training, bis ich wieder normal essen konnte. All das hatte mich schon einmal fast in die Knie gezwungen und ein zweites Mal würde ich es ganz sicher nicht schaffen. Abgesehen davon, dass mein Vater das nicht noch einmal erleben sollte. Er hat immer alles für mich getan, da konnte ich ihm das nicht antun.
„Ich bin hier. Du kannst schlafen, versprochen." Wincent strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Okay."
„Gute Nacht, Anna."
„Gute Nacht, Wincent."
Mir fielen eigentlich schon fast die Augen zu und gleichzeitig hatte ich riesige Angst vor dem Einschlafen. Ich wollte keine Albträume, wollte mich nicht wieder damit rumplagen, nachts schweißgebadet aufzuwachen. So tastete ich nach Wincent, der allerdings nicht in meiner Reichweite saß. Automatisch begann ich schneller zu atmen und mir wurde trotz Decke eiskalt.
„Hey, Anna. Atme. Langsam." Wincents Stimme klang erst nur ganz gedämpft an meinem Ohr.
Er griff nach meiner Hand und redete weiter ruhig auf mich ein.
„Ich bin da. Hab ich dir doch versprochen", sagte er und hielt einfach weiter meine Hand fest.
Glücklicherweise halfen seine Berührung und seine Stimme dabei, mich wieder zu beruhigen. Panikattacken waren mitunter die schlimmste Begleiterscheinung von Marthas Auftritt und ich hatte sie absolut nicht vermisst.
Wieso kam der ganze Scheiß jetzt wieder? Mir ging es doch so gut. Ich dachte, ich könnte endlich glücklich werden. Und dann dachte Martha sich, sie kommt einfach wieder angekrochen. Ich brauchte meine imaginäre und absolut toxische ‚Freundin' nicht! Sie sollte einfach abhauen!
Damals war es mir im Grunde egal, aber gerade merkte ich, dass Marta das blödeste Timing der Welt hatte. Immer, wenn der Moment so schön war, meinte sie, sich wieder ins Gedächtnis rufen zu müssen. Wenn das so weiterging, konnte ich mein Leben vergessen. Wer hielt es denn schon auf lange Zeit mit einer Blinden aus, die von ihrer imaginären Freundin terrorisiert wurde?
„Wince?"
Die fremde Stimme, die ich vorhin nur kurz gehört hatte, riss mich aus meinen Gedanken.
„Was ist los?", fragte Wincent.
„Kann man dir irgendwie helfen? Soll ich euch alleine lassen?"
„Ey, du bist extra die zwei Stunden hierher gekommen. Das wäre ja bescheuert, wenn du gehst, bevor wir gequatscht haben", protestierte Wincent direkt.
„Du wirst hier gebraucht. Ich merk das doch. Außerdem bist du der beste Freund, den man sich wünschen kann. Wir können einfach quatschen, wenn du aus Berlin zurück bist. Soweit ich weiß, will deine Familie dich eh mal wieder sehen."
„Ich weiß", sagte Wincent leise. „Wollte ich eigentlich länger schon machen, aber du weißt ja, wie das ist. Dennoch fänd ich es schade, wenn du wieder nach Hause fährst."
„Ich könnte uns zwei Bier holen gehen und wir bleiben einfach hier oben", schlug Wincents Besuch vor.
„Das wäre eigentlich eine gute Idee."
„Dann bis gleich."
Ich hörte die Tür aufgehen und dann leise wieder im Schloss einrasten.
So wirklich schlafen konnte ich noch immer nicht, obwohl die Müdigkeit sich immer mehr in meinem Körper ausbreitete.
„Ey Fritz, Pfoten vom Bett", hörte ich Wincent leise, aber dennoch sehr bestimmt sagen.
Mein Hund winselte kurz.
„Du kannst nicht bei deinem Frauchen im Bett schlafen. Das weißt du doch eigentlich auch."
Fritz winselte wieder kurz.
„Schau mich nicht so an, du süßer Kerl. Du schläfst trotzdem auf deiner Decke." Ich hörte Wincents Grinsen, als er sagte: „Ja, so ist gut, mein Freund. Jetzt Äuglein zu und schlafen."
Es herrschte kurz Stille.
Dann begann Wincent leise zu summen. „Mhm mhm mhm mhm mhm mhm mhm..."
Im Kopf sang ich den ganz simplen Text automatisch mit. Ich konnte mich noch genau erinnern, dass meine Spieluhr damals genau dieses Lied gespielt hatte. Mein Vater weigerte sich strikt, mir abends ‚Der Mond ist aufgegangen' vorzusingen, also lief auch in der Grundschule noch die Spieluhr. Doch irgendwann wollte ich ein neues Lied und da sprang mein Vater dann doch über seinen Schatten und ich bekam jeden Abend ‚Weißt du, wie viel Sternlein stehen' vorgesungen.
„Hier, dein Bier", wurde Wincents Gesangseinlage leise unterbrochen.
„Danke. Setz dich einfach."
„Also Wince, was war vorhin?"
„Ist eine längere Geschichte und nicht gerade schön", antwortete Wincent nach einiger Zeit.
„Willst du darüber reden?"

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt