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Wincent

Ich überlegte kurz, aber im Grunde war es egal. Mats und Amelie waren nicht vorgewarnt und Anna auch nicht. Dann konnte ich auch hier bleiben. Von wo aus ich übermorgen zum Büro fuhr, war nicht relevant.
„Ja, wenn du willst, gerne", antwortete ich und meinte so etwas wie Erleichterung in Annas Gesicht zu lesen.
„Sonst würde ich nicht fragen."
„Dann mal los."
Ich nahm unsere Rucksäcke und Fritz ganzen Kram aus dem Kofferraum. Dann schloss ich das Auto ab, schnappte die ganzen Sachen und folgte Anna ins Haus. Ich war echt froh, als sie die Wohnungstür aufschloss. Unsere Sachen waren nicht wirklich schwer, aber das Autofahren hatte mich müder gemacht, als ich dachte.
Anna leinte Fritz ab und zog sich dann Schuhe und Jacke aus, während ich die Rucksäcke ins Schlafzimmer brachte. Anschließend zog auch ich Schuhe und Jacke aus, wobei Fritz immer um mich herum sprang. Er war sichtlich froh, wieder Zuhause zu sein und vor allem schien ihn meine Anwesenheit zu freuen.
Anders als bei mir, räumte ich meine Schuhe ordentlich weg und hängte meine Jacke auf. Immerhin wollte ich auf jeden Fall vermeiden, dass Anna über mein Chaos stolperte. Das hatte ich schon sehr schnell gelernt.
„Wie sieht es mit Abendessen aus?", fragte ich und ging mit Fritz im Schlepptau in die Küche.
Er bellte fröhlich und sah mich erwartungsvoll an, was mich zum Lachen brachte.
„Ich dachte mir fast, dass dir das gefällt", sagte ich und streichelte ihm über den Kopf.
„Ich hab gar keinen richtigen Hunger", meinte Anna und ich wurde wieder aufmerksam.
Das Thema Essen kam den Tag über schon zu kurz, da konnte ich jetzt nicht nachgeben.
„Weißt du, ob es hier einen Asia gibt? Dann würde ich mit Fritz eine Runde drehen und Sushi mitbringen", schlug ich vor.
„Mhm, okay."
„Willst du mitkommen?" Ich sah Anna prüfend an. Alleine sein wollte sie ganz offensichtlich nur ungern.
Sie schwieg.
„Anna, ich will dich so eigentlich nicht alleine lassen. Wir können ja auch einfach zusammen raus gehen."
„Aber...", setzte Anna an.
„Aber was?"
„Naja, du... bist hier nicht ganz unbekannt." Ihr kamen die Worte sichtlich schwer über die Lippen.
Für mich war es interessant. In Hamburg hatten wir einfach nicht darüber nachgedacht und das war super. Ich habe es zumindest sehr genossen und ich glaube, Anna auch. Da ich aus dem Norden kam, war es wahrscheinlicher, dort Fans zu treffen, aber gut. Ich hatte mich entschieden. Beziehungsweise mein Herz.
„Anna", begann ich, trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hände. „Komm, wir setzen uns mal kurz."
Ich dirigierte Anna zum Sofa und setzte mich dann neben sie, ohne unsere Hände zu lösen.
„Verrätst du mir, wie du jetzt darauf kommst?", fragte ich sanft.
Anna dachte kurz nach und ich war einige Sekunden abgelenkt, als Fritz sich mal wieder auf meine Füße legte.
„Ich... hab im Auto etwas Seltsames geträumt", gab sie zu.
„Willst du es mir erzählen?"
Erst schüttelte sie den Kopf, fing dann aber doch mit leiser Stimme an.
„Wir waren zusammen unterwegs. Hier in Berlin, glaube ich. Es war ähnlich wie in Hamburg. Wir beide und Fritz mit Zeit für uns und ernste Gespräche. Auf jeden Fall waren wir in einem Park, wenn ich mich richtig erinnere." Sie machte eine kurze Pause. „Und dann spürte ich Blicke. Keine freundlichen, sondern abschätzige, vielleicht auch eifersüchtige."

Annalena

„Und dann?", hakte Wincent leise nach.
Ich überlegte, ob ich ihm wirklich alles erzählen wollte. Es hatte sich so real angefühlt. Das war auch einer der Gründe, warum ich nicht alleine sein wollte.
„Dann haben sie dich angesprochen wegen eines Fotos und so. Ich hab dir dann gesagt, dass du das ruhig machen sollst und ihr seid ein wenig zur Seite gegangen. Du kamst dann zurück und beim Gehen sagten sie noch etwas. Genau weiß ich es nicht mehr, aber es war deutlich nichts Positives über meine Anwesenheit gewesen."
Ich versuchte verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. Es war ein Traum und damit sollte das Thema eigentlich erledigt sein. Doch irgendwie wurde ich das ungute Gefühl nicht los.
Wincent war halt nicht irgendjemand. Seine Fangemeinde war groß, sehr weiblich und umfasste eine breite Altersspanne. Und Erzählungen zufolge sah er auch noch gut aus. Über seinen Charakter brauchten wir eigentlich nicht zu reden. Fakt war: Wincent war ein unglaublich sympathischer und liebevoller Mann, bei dem Geld eine sehr germ kleine Rolle spielte. Und er war ein klassischer Teenie-Star. So bekannt, wie er war, konnte er sich seine Begleitung einfach aussuchen.
Und er verbrachte ausgerechnet mit mir seine Zeit. Wieso verstand ich nicht, aber mein Herz war mehr als begeistert.
„Anna, egal was sie in deinem Traum gesagt haben. Du bist eine wunderbare Frau und ich bin sehr gerne mit dir zusammen. Was andere denken, ist mir ziemlich egal."
Ich stieg nach dem zweiten Satz gedanklich schon aus. Er verbrachte sehr gerne Zeit mit mir? Und es war ihm egal, was andere dachten?
„Anna, ich verstehe deine Angst. Aber wir können uns deshalb nicht verstecken. Ich finde, wir sollten eine Runde drehen."
„Und wenn wir... Fans treffen?"
„Ich habe klare Prioritäten. Und außerdem habe ich ja auch noch ein gewisses Privatleben. Ich lasse mir ganz sicher nicht von meinen Fans vorschreiben, was ich zu tun hatte und mit wem ich meine Zeit verbringen sollte."
Seine Worte beruhigten mich ein wenig, aber dennoch wurde mir gerade zum ersten Mal wirklich bewusst, mit wem ich hier saß.
„Anna, vertraust du mir?"
Ich nickte, ohne zu zögern. „Ja." Ich vertraute ihm, denn bisher konnte ich mich immer auf ihn verlassen.
Und so sehr, wie Fritz ihn liebte, musste ich mir eigentlich keine Gedanken machen.
„Okay. Dann gehen wir jetzt raus und du schaltest bitte ein wenig deinen Kopf aus, ja? Ich passe schon auf dich auf."
„Okay", hauchte ich.
Bisher hatte ich Spaziergänge mit Wincent immer sehr genossen. Heute hatte mein Traum aber dafür gesorgt, dass ich mir nur Gedanken machte.
Und das war nicht so das, was wir machen wollten. Ein schöner Spaziergang klang echt nach einer guten Idee. Das mit dem Essen musste nicht so sein. Das mit dem Essen musste nicht so sein, aber da würde ich bei Wincent gegen eine Mauer reden.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now