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Wincent

Auf meine letzte Nachricht hatte sie noch nicht geantwortet und irgendwie hatte ich ein wenig Angst vor ihrer Reaktion. Es war für mich jetzt nur eine Kleinigkeit, aber erstens fiel es Anna schwer, Hilfe anzunehmen, und zweitens kannten wir uns noch nicht so gut.
Ich musste zugeben, dass ich sie ein wenig geärgert hatte. Natürlich ahnte ich, dass die Sache mit dem Sofa eine Anspielung auf unser Gespräch gestern Abend war. Dennoch wollte ich Anna ein bisschen aus ihrem Schneckenhaus locken. Ja, sie war manchmal total locker und schlagfertig drauf, aber dann auch wieder schüchtern. Ob das nur mir gegenüber so war, wusste ich nicht, aber ich hoffte sehr, dass sie das irgendwann überwinden würde.
Da sie nach zehn Minuten noch nicht geantwortet hatte, machte ich mich erst einmal für den Drehtag fertig. Ich schmiss die Sachen in meinen Rucksack, so viel brauchte ich nicht, und entschied mich dann für einen Spaziergang. Fürs Gym war es zu spät, aber wenn ich den Rucksack ins Auto schmiss, konnte ich noch ein wenig durch die Straßen schlendern, bevor ich zum Set musste. So machte ich es am Ende dann auch und nahm nur Autoschlüssel, Handy und AirPods mit. Ohne genaues Ziel lief ich los und schaute mir die Gegend rund um mein Hotel mal an. Ich war hier zwar schon häufiger, aber nie gab es die Chance, mich mal umzusehen. Irgendwann sah ich mal auf die Uhr und stellte fest, dass ich langsam wieder zum Hotel zurück musste, wenn ich nicht spät kommen wollte.
Genau in diesem Moment bekam ich eine neue Nachricht von Anna. Diese Frau hatte ein Timing, ey.
Ich packte meine AirPods in die Ohren, verband sie mit dem Handy und machte mich auf den Rückweg, während ich ihre Nachricht abhörte.
„Sorry, dass ich jetzt erst antworte. Mein Vater hat deine Audio durch einen Anruf unterbrochen. Er wollte wissen, wann ich heute komme. Ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht. Je nachdem, wie schnell ich jetzt Fritz versorgt habe. Also bezüglich deines Angebots..."
Ich hielt automatisch die Luft an. Jetzt wurde es spannend.
„... Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann. Du musst arbeiten und außerdem hilfst du mir schon heute Nachmittag. Ich fühl mich einfach blöd, wenn du mir ständig aushelfen musst, wo ich es bisher auch so geschafft habe, verstehst du? Meine Angst ist einfach, dass Fritz dich zu sehr ablenkt. Eben auch, weil ihr euch so super versteht. Und die Sofa-Story erzähle ich dir auf keinen Fall."
Kurz dachte ich nach und antwortete dann.
„Anna, ich mach das unglaublich gerne für dich. Mit meiner Arbeit ist alles geklärt. Mein Tag ist ja nicht so lang, das bekommen Fritz und ich schon hin. Ich will einfach nur, dass du entspannt zu deinem Vater kannst. Familie ist das wichtigste und du bist seinetwegen hier. Unser Treffen heute Mittag reicht mir schon als Dank. Vorausgesetzt natürlich, es bleibt nicht nur dabei. Mindestens ein Abendessen in Berlin steht ja noch aus. Bezüglich der Sofa-Sache. Warum willst du es nicht erzählen? Hast du Angst, dass ich etwas Geheimes erfahre? Oder glaubst du, ich werde eifersüchtig? Bei beiden Dingen kann ich dir sagen: Mach dir keine Gedanken. Ersteres bleibt ganz bestimmt unter uns und ich bin in der Regel nicht so schnell eifersüchtig. Unsere Dates bleiben trotzdem."

Annalena

Als ich Wincents neue Nachricht abhörte, schrumpften meine Argumente immer weiter. Ich glaubte ihm sofort, dass er mir gerne half, auch wenn ich es noch immer nicht verstand. An mir war nichts besonders. Warum also machte er sich dann so Gedanken? Wieso war es ihm wichtig, dass es mir gut ging? Und wie konnte er so nett, hilfsbereit, frech und gleichzeitig unheimlich süß sein?
„Okay, überredet. Du kannst heute auf Fritz aufpassen, aber nur, wenn ich dir dafür etwas zurückgeben darf. Keine Sorge, kein Geld, sondern einen coolen Abend. Noch hier in Hamburg. Ich weiß schon, was wir machen könnten und es wird komplett kostenfrei sein. Versprochen. Und die andere Sache beantworte ich dir nicht. Dabei bleibt es. Genau wie unsere Dates. Die will ich gar nicht eintauschen."
Gebannt wartete ich auf eine Reaktion seinerseits. Diese Audio war mir echt schwer gefallen, aber irgendwie konnte ich ihm nicht widerstehen. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich das auch gar nicht. Ich wusste, dass Fritz bei Wincent gut aufgehoben war und vielleicht hatte mein Hund sich ja dann soweit beruhigt, dass ich Wincents Aufmerksamkeit für den Rest des Tages hatte.
„Klingt nach einem Deal. Ich bin ja gespannt, was du dir überlegt hast. Bekomme ich einen Tipp? Und wegen Fritz. Wenn du mir sagst, wo ich hin muss, dann bin ich vermutlich so in zehn Minuten da."
Ich überlegte kurz, ob ich irgendwo gut hinkam. Schließlich sagte ich nur: „Google, schick Wincent meinen Standort."
Hoffentlich klappte das jetzt, denn ausprobiert hatte ich die Funktion vorher noch nicht.
Eine neue Nachricht von Wincent kam nur wenige Minuten später. Ich ließ sie direkt abspielen.
„Okay, alles klar. Das finde ich. Navi sagt zehn Minuten, also bin ich so in sieben da."
Ich schüttelte den Kopf. Ja, Lara hatte sich das eindeutig von ihm abgeschaut. Wieso war es für Männer, und Lara, eine Challenge, das Navi in der Fahrzeit zu unterbieten? Diesen Adrenalin-Kick würde ich wohl nie verstehen. Als Beifahrerin war das nämlich nicht so wirklich cool.
In mir kam die Erkenntnis hoch, dass ich immer noch in meinen Schlafsachen rumlief. Also machte ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer, holte saubere Klamotten aus meinem Rucksack und zog mich an. Dann lief ich in die Küche, räumte meine Sachen vom Frühstück weg und gab Fritz noch Futter. Dann suchte ich den kleinen Beutel mit seinen Leckerlis raus. Jetzt müsste ich alles haben. Ich nahm eine Handtasche, packte Handy, Portemonnaie und meine AirPods ein. Dazu tat ich noch eine kleine Flasche Wasser.
Genau im richtigen Moment schloss ich die Tasche, denn es klingelte an der Haustür. Das war sehr wahrscheinlich Wincent. Der Mann hatte echt nicht übertrieben mit der Zeit, die er brauchte. Wo auch immer das Hotel war, ich bezweifelte, dass es andere Leute so schnell schafften.
Ich ging zur Tür und betätigte die Gegensprechanlage. Auch das hatte sich nicht verändert. Mein Vater hatte sogar die Zahlen dran gelassen, die er mir damals eingeprägt hatte, damit ich die richtige Reihenfolge lernte.
„Ja?"
„Wincent hier."
„Komm hoch. Dritter Stock."
Ich öffnete die Tür unten per Knopfdruck und lehnte die Wohnungstür an. Dann ging ich nochmal durch alle Räume, tastete die Lichtschalter ab, ob alles aus war, und zog meine Schuhe an. Eine Jacke brauchte ich vermutlich nicht. Im Anschluss leinte ich noch schnell Fritz an und genau in dem Moment begann er zu bellen. Vermutlich war Wincent oben angekommen. Hätte ich erwähnen sollen, dass es keinen Fahrstuhl gab? Aber nein, Lara erzählte mal, dass Wincent viel Sport trieb. Da waren drei Stockwerke bestimmt nichts.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now