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Wincent

Jetzt, wo wir alle erleichtert waren, quatschten wir entspannt noch eine ganze Weile mit Lara. Zumindest, bis Mats Handy ausging, was uns drei zum Lachen brachte. Anna nahm ihr Handy heraus und wir schickten Lara eine Sprachnachricht.
Es kam nur ein Lachen und ein „Nicht so schlimm. Dann werde ich mal noch ein wenig Hausarbeit machen" zurück.
„Und was machen wir jetzt noch?", fragte ich in die Runde.
„Ich glaube, ein bisschen frische Luft tut uns alle gut", antwortete Mats. „Was haltet ihr von einem kleinen Spaziergang mit Fritz?"
„Klingt gut", erwiderte Anna.
„Dann los." Mats stand auf und ich folgte ihm.
Sonst würden wir in einer Stunde noch immer auf dem Sofa liegen. Klang gar nicht so schlecht, aber das konnten wir nachher immer noch machen.
Ich half Anna hoch und dann gingen wir alle in den Flur, um unsere Jacken und Schuhe anzuziehen. Fritz schien genau zu wissen, worum es ging, denn er sprang mal wieder um mich herum. Erst als ich ihn angeleint hatte, beruhigte er sich. Weil Anna sich hier nicht auskannte, gab ich ihr die Leine und nahm ihre andere Hand.
„Abschließen?", fragte Mats, als Anna und ich in den Hausflur traten.
„Mein Schlüssel liegt auf der Kommode", sagte ich nur und konnte mir direkt denken, dass Mats die Augen verdrehte.
„Ich bin dein Fotograf, nicht dein persönlicher Assistent", sagte er und drückte mir den Schlüssel in die Hand.
Natürlich, nachdem er abgeschlossen hatte. An der Stelle war einfach auf ihn Verlass.
„Danke", sagte ich und steckte den Schlüssel in die Tasche.
Nach einem ausgiebigen Spaziergang, gingen wir noch entspannt Sushi essen. Anschließend ließ Mats uns alleine und verabschiedete sich ins Hotel. Ich hielt ihn nochmal kurz auf und sagte ihm, dass wir am kommenden Tag nicht drehen würden. Er verstand, dass ich eine Pause brauchte und gerade jetzt Zeit mit Anna brauchte.
Wieder zurück in meiner Wohnung, gab ich Fritz noch schnell sein Abendessen, während Anna sich bereits bettfertig machte. Ich merkte, wie anstrengend so alltägliche Dinge gerade waren. Vermutlich setzte ihr die ganze Situation mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Dabei war Anna doch schon so stark. Sie hatte mir und inzwischen auch Mats von ihrer Magersucht erzählt.
Ich war noch immer in Gedanken versunken, als ich mich bettfertig machte. Erst als mir die Zahnbürste aus der Hand fiel, konzentrierte ich mich endlich darauf, was ich gerade tat.
„Anna? Bist du noch wach?", fragte ich und legte mich ins Bett. So langsam kam bei mir auch die Müdigkeit durch.
„Mhm", murmelte sie.
„Okay, dann schlaf gut." Ich gab ihr einen kurzen Kuss und Anna kuschelte sich an mich.
Am nächsten Morgen stand ich gegen 8 Uhr leise auf, kümmerte mich um Fritz und ging dann zur Reha. Anna schickte ich eine Sprachnachricht, damit sie sich keine Sorgen machte. Als ich um halb 12 wieder in die Wohnung kam, war Anna noch immer nicht wach. Ich weckte sie sanft und machte dann Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen für uns beide.
„Da bist du ja. Setz dich, ich hab Kaffee gemacht", sagte ich, als Anna die Küche betrat.
Sie kam meiner Aufforderung nach und ich stellte ihr die Tasse hin. Da ich selbst nicht so viel Hunger hatte, stellte ich jedem von uns eine kleine Portion Müsli mit Joghurt hin.
Tatsächlich schien die Aussprache mit Lara gestern Annas Laune gehoben zu haben, denn sie aß wieder normal. Erleichtert sah ich meiner Freundin zu und dankte in Gedanken nochmal Lara dafür, dass sie Mats geschrieben hatte.
„Was machen wir jetzt?", wollte Anna wissen, als ich unser dreckiges Geschirr wegräumte.
„Couch und chillen?", schlug ich vor.
„Klingt super."
So kuschelten wir uns auf die Couch und ich schaltete im Hintergrund leise Musik an. Fritz wollte natürlich nicht ausgeschlossen werden und machte es sich auf meinem Bein bequem.
Anna nickte nach kurzer Zeit nochmal weg und ich konnte es absolut nachvollziehen. So langsam fiel einiges an Spannung von mir ab und ich merkte, wie erschöpft ich war. Also stellte ich mir einen Timer, damit ich in spätestens einer Stunde wieder wach war und schloss die Augen. Zu den Klängen von ‚Unsere Bank' schlief ich ein.
Genau passend zum Klingeln des Weckers, war Fritz der Meinung, dass ich eine Dusche gebrauchen könnte. Oder mindestens eine Gesichtswäsche.
„Ist ja gut. Ich bin doch wach", murmelte ich und schob Fritz sanft von meinem Oberkörper.
Schwanzwedelnd und abwartend sah er mich an. Also stand ich vorsichtig auf und ging ins Bad, um mich kurz frisch zu machen.
Fritz hatte in der Zwischenzeit offenbar auch sein Frauchen geweckt, denn Anna kam mir im Flur entgegen.
„Na, auch wieder wach?", fragte ich.
„Ja. Und ausgeschlafen", erwiderte sie.
„Sehr schön. Ich hab übrigens eine Idee, was wir den Rest des Tages machen. Jetzt, wo wir beide wach sind."
„Erzähl es mir gleich, okay?"
„Ja."
Anna verschwand im Badezimmer und ich ging ins Wohnzimmer zu Fritz. Der hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Ausgestreckt, genug Platz hatte er ja, nachdem seine Weckaktion bei Anna und mir erfolgreich war, und schlief.
Ich schoss grinsend ein Erinnerungsfoto und sah mich dann nochmal ganz genau im Raum um. Mir fiel etwas ein und ich lief ins Schlafzimmer, um aus einer der untersten Schubladen einen schwarzen Schal zu holen.
„Wo warst du?", fragte Anna, als ich ins Wohnzimmer zurückkam.
„Hab etwas geholt."
„So, was war deine Idee?"
„Wir haben doch nach ‚Dialog im Dunkeln' abgemacht, dass wir uns gegenseitig unsere Welten etwas näher bringen wollen."
„Ja..."
„Und ich dachte mir, wir könnten den freien Nachmittag und Abend nutzen, um das mal auszuprobieren."
„Was genau jetzt?"
„Wir testen, wie gut ich mich in meiner Wohnung zurechtfinde, ohne etwas zu sehen", erklärte ich.
„Du willst die nächsten Stunden blind sein?", hakte Anna überrascht nach.
„Ja."
„Wow. Ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll."
„Sag einfach, dass du mir hilfst", bat ich sie.
„Natürlich helfe ich dir. Ich brauch dich ja noch."

„Das ist gut", grinste ich. „Also ich verbinde mir jetzt die Augen. Warte..."
Mit leicht zitternden Händen legte ich den Schal über meine Augen und knotete ihn am Hinterkopf zusammen. Hoffentlich hielt das so.
„So, jetzt sind wir gleich", sagte ich und ignorierte, dass Anna das natürlich gewohnter war als ich.
Erst einmal stand ich bestimmt fünf Minuten lang nur im Raum und versuchte mich daran zu gewöhnen, dass ich blind war.
„Alles okay?", fragte Anna.
„Ja", antwortete ich. „Bin nur leicht überfordert. Sonst ist alles gut."
„Du kannst jederzeit aufhören."
„Ich weiß. Aber das ist ja nicht mein Ziel."
„Okay. Du entscheidest. Ich ruf nur im Zweifelsfall den Notarzt."
„Eine hervorragende Idee. Auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, wie wir dem diese Situation erklären sollen", merkte ich an.
Anna lachte und mein Herz machte einen dreifachen Salto. Ich liebte ihr Lachen einfach.
„Okay. Bist du bereit?", fragte sie.
„Ja. Ich glaube schon."
„Ich würde sagen, wir machen immer so kleine Aufgaben. Die erste ist: Geh in die Küche und trinke ein Glas Wasser."

Bin ich für sie blind? Kde žijí příběhy. Začni objevovat