17

162 17 6
                                    

Annalena

Bei meinem Vater an der Wohnung angekommen, half mir Steffi beim Hochtragen meiner Sachen. Mein Vater hatte seit ich klein war, nichts mehr an der Wohnung geändert. So kannte ich mich wenigstens noch immer aus, was ziemlich gut war. Gut, ab und zu lag mal etwas im Weg, wenn ich zu Besuch kam, aber er stellte keine neuen Möbel auf.
„Steffi?", fragte ich, in der Küche stehend.
„Was ist?"
„Kannst du mir sagen, was so im Kühlschrank ist? Das hat Papa mir nämlich nicht gesagt."
„Klar."
Eine Tür öffnete sich und wurde wieder geschlossen.
„Sorry Anna, aber hier ist nur eine Portion Nudeln mit Soße. Das ist wohl dein Abendessen. Ach und Müsli ist da, im Kühlschrank ist Milch. Ich fürchte, du musst morgen einkaufen gehen", erklärte Steffi mir.
„Oh je. Aber gut, es war Montag. Kein Wunder, dass er noch nicht einkaufen war", erwiderte ich.
„Ich würd dir liebend gerne helfen, aber morgen Abend ist eine Vorstellung. Ich bin den ganzen Tag eingespannt. Schaffst du das alleine?"
„Ja", antwortete ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher war. Immerhin war ich so selten hier, dass ich mich quasi nicht auskannte. Abgesehen davon, dass mein Vater immer vorher einkaufen war, sodass ich einfach nur Zeit mit ihm verbringen konnte.
„Dann ist gut. Bist echt erwachsen geworden", meinte Steffi und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Danke für alles, Steffi."
„Sehr gerne. Und wenn etwas ist, kannst du dich jederzeit melden, ja?"
„Mach ich", versprach ich ihr.
„Dann wünsche ich dir einen schönen Abend. Vielleicht sehen wir uns ja noch."
„Das wäre sehr schön. Ich muss doch mal bei dir auf Arbeit vorbeischauen."
„Ich freu mich jetzt schon drauf. Meld dich einfach, wenn es passt, ja?"
„Ja. Wird erledigt." Ich grinste sie an.
„Bis dann, Anna." Sie nahm mich in den Arm und ich genoss es sehr.
Als ich die Tür ins Schloss fallen hörte, atmete ich tief durch. Jetzt war ich auf mich alleine gestellt. Gut, Fritz war noch da, aber die Zeit, in der er es nicht war, konnte ich an einer Hand abzählen. Irgendwie fühlte es sich hier erstaunlich nach Zuhause an, obwohl ich nur selten hier war. Viel zu selten, wie mir mal wieder bewusst wurde. Hunger hatte ich noch nicht, also ging ich erst einmal ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. Fritz kam natürlich direkt zu mir.
„Und was machen wir zwei jetzt?", fragte ich meinen Hund.

Wincent

Ich saß an der Hotelbar und beobachtete die ganzen Menschen um mich herum. Eigentlich hasste ich es, alleine zu sein, aber heute fand ich es gar nicht so schlimm. Ich trank einen Schluck von meinem Bier und checkte mein Handy. Seit Anna vorhin zwar eine Audio aufgenommen, aber nicht geschickt hatte, tat ich das regelmäßig. Es kam aber keine neue Nachricht. Wahrscheinlich war sie noch bei ihrem Vater. Wäre ich an ihrer Stelle, wäre mir das auch wichtiger, auch wenn ich irgendwie schon gerne ihre Stimme gehört hätte.
Ich trank mein Bier noch aus und ging dann auf mein Zimmer zurück. Ich schmiss mich aufs Bett, nahm meinen Laptop und öffnete Netflix. Vermutlich wäre Mails lesen und beantworten sinnvoller, aber meine Motivation für Arbeit hielt sich sehr in Grenzen. Anna erinnerte mich schon irgendwann dran, aber vielleicht ergab sich ja morgen eine Option. Immerhin meldete Kai mir, dass ich den ganzen Nachmittag frei hatte, da er noch einen anderen Termin hatte. Vielleicht konnte ich mich ja auch mit Anna treffen. Das klang definitiv vielversprechender als Mail zu lesen. Meine Managerin kannte mich ja inzwischen, also brauchte ich mir da keine Sorgen zu machen. Sie wäre sicherlich nicht begeistert von meinen Prioritäten, aber egal.
Nachdem ich die erste halbe Stunde des Films gesehen hatte, meldete sich mein Handy zu Wort. Erst wollte ich es ignorieren, aber dann siegte meine Neugier und irgendwie hoffte ich, dass Anna sich gemeldet hatte. Und tatsächlich wurde mein Angeln nach dem Handy belohnt.
Ich pausierte den Film und ließ die Nachricht abspielen.
„Hey Wincent. Sorry, dass ich mich erst so spät wieder melde. Wurde vorhin unterbrochen und als ich Ruhe hatte, hab ich vergessen, was ich sagen wollte. Auf jeden Fall bin ich jetzt bei meinem Vater in der Wohnung und werde die Woche über noch hier bleiben. Ihm geht es soweit ganz gut, er darf vermutlich in zwei Tagen wieder raus. Nun aber etwas anderes. Oder vielleicht nicht ganz. Eigentlich wollte ich dich nicht damit nerven, aber hast du morgen irgendwie Zeit? Ich muss für meinen Vater einkaufen und ich kenne mich hier nicht mehr aus. Warum das ein Problem ist, kannst du dir vermutlich denken... Ich weiß, wir wollten uns eigentlich so richtig treffen, aber hilfst du mir vielleicht trotzdem bei dieser kleinen Alltagssituation?"
Ich hörte, dass sie diese Nachricht viel Überwindung gekostet hatte. Mir ging es ganz lange ähnlich. Nach Hilfe fragen war noch nie so meine Stärke und Annas offensichtlich auch nicht. Aber sie war über ihren Schatten gesprungen und irgendwie machte mich das ein wenig stolz auf sie.
„Moin Anna. Kein Problem. Zum Thema Einkauf. Ich hab dir gesagt, dass ich dir helfe und dazu steh ich auch. Also ja, wir gehen zusammen einkaufen. Ich habe Mittags Schluss. Wie wäre es, wenn wir danach Fischbrötchen essen gehen und im Anschluss einkaufen?"
Ihre Antwort kam nur ganz kurze Zeit später.
„Danke, Wincent. Ich weiß das sehr zu schätzen. Dein Plan klingt super. Treffen wir uns dann am Hafen? Bis dahin müsste ich noch kommen, wenn mein Orientierungssinn noch nicht ganz eingerostet ist. Wäre echt peinlich, wenn ich mich in meinem alten Heimatviertel verlaufen würde." Im Hintergrund wurde gebellt. Vermutlich war es Fritz. „Jaja, lach mich nur aus", hörte ich Anna sagen, die wahrscheinlich gerade mit ihrem Hund sprach. „Du kennst dich hier noch gar nicht aus, also psst. Also 13 Uhr am Hafen?"
Ich sah bildlich vor mir, wie Anna während der Aufnahme mit Fritz schimpfte. Deshalb hatte ich noch immer ein Grinsen im Gesicht, als ich ihr antwortete.
„Das klingt sehr gut. Wenn du dich doch verläufst, musst du mir deinen Standort schicken. Solange du nicht ins Wasser fällst, müsste ich dich finden. Du könntest Fritz ja einen Stadtplan von Hamburg geben, dann kann er über Nacht die Strecken lernen."
Warum laberte ich eigentlich schon wieder so einen Müll? Konnte ich nicht einmal nachdenken, bevor ich etwas sagte?
Annas Antwort kam quasi postwendend.
„Fritz findet deine Idee nicht so toll. Erst ist er fast durchgedreht, als er deine Stimme gehört hat, frag nicht, ich hab keine Ahnung, und dann brummelte er mich beleidigt an. Als ob es meine Idee gewesen wäre."
Offenbar fand sie es ganz witzig. Ich weiß zwar nicht, ob sie wegen der Vorstellung von Fritz, der Stadtpläne auswendig lernt, oder wegen seiner Reaktion amüsiert war. Es war auch egal. Sie schien glücklich zu sein, obwohl sie alleine in der Wohnung ihres Vaters saß. In der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, aber lange nicht mehr gewesen war.
„Muss ich mir jetzt Sorgen machen, wenn wir uns morgen sehen? Nicht, dass Fritz jetzt sauer ist."
„Mach dir keine Gedanken, er mag dich trotzdem noch. Zumindest springt er bei jeder Nachricht von dir durch den Raum. Ich weiß nicht wie, aber ich glaube, du hast meinen Hund verhext." Sie musste ganz eindeutig das Lachen unterdrücken.
„Solange er nicht kaputt ist, sondern noch funktioniert, bin ich beruhigt. Und ich hab gar nichts gemacht. Also außer Bier gekauft, wenn ich mich richtig erinnere."
„Mein Bier." Anna lachte. „Aber ist schon okay. Auch wenn Fritz das anders sah, teile ich gerne. Also manchmal. Wenn es nicht um Gummibärchen geht."
Es machte mich einfach so unglaublich glücklich, mit Anna zu schreiben. So langsam fand ich richtigen Gefallen an Sprachnachrichten. Es war fast wie telefonieren, nur mit der Option, Aussagen zu löschen. Also, bevor man sie abschickte, natürlich nur.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now