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Annalena

Nach einem kurzen Besuch im Bad kuschelte ich mich einfach wieder zu Wincent unter die Decke. Ich wollte noch nicht so wirklich aufstehen. Er offenbar auch nicht, denn er gab mir einen Kuss auf die Stirn und zog mich dann wieder an sich. So kuschelten wir noch eine Weile, bis Wincents Handy klingelte.
„Ich fürchte, da muss ich rangehen", murmelte er und löste sich ein Stück von mir. „Ja?... Moin Mats... Ähm, klingt gut. Aber gib mir zehn Minuten, okay?... Machen wir so. Bis gleich."
„Was wollte er?", fragte ich.
„Mats bringt Frühstück", antwortete Wincent. „Also müssen wir wohl aufstehen."
„Mhm."
„Komm, Maus. Den ganzen Tag im Bett liegen können wir an meinen Offdays machen", forderte er mich auf und ich gab nach.
Wir standen auf und während ich schon ins Bad ging, ließ ich Wincent unsere Sachen raussuchen. Es dauerte auch nicht lange und er kam zu mir.
„Hier", sagte er und reichte mir einen kleinen Stapel Klamotten.
Ich fuhr mit dem Finger über das obere Stück und musste grinsen. Das war eigentlich klar.
„Was ist?", wollte Wincent wissen.
„Nichts."
„Komm, sag."
„Less?", riet ich, denn gefühlt sein halber Kleiderschrank bestand aus diesen Klamotten.
„Ja. Woher weißt du das?"
„Der Schriftzug ist eindeutig. Keine andere Marke ist so kurz und gestickt."
„Du bist unglaublich. Aber ausnahmsweise ist das mal deine Größe", erwiderte er.
„Meine? Woher...?"
„Hab ich dir mitgebracht. Wir haben einfach noch genug Restbestände gehabt, da fallen die paar fehlenden Shirts und Hoodies nicht auf."
„Du meinst, wir laufen jetzt immer im Partnerlook rum?"
„Ja. Und vor allem kann niemand etwas sagen, weil es ja deine und nicht meine Sachen sind."
Wir machten uns für den Tag fertig und es fiel mir heute definitiv leichter, weil Wincent da war. Während er sich dann darum kümmerte, dass der Tisch und Kaffee fertig war, bevor Mats kam, meldete ich endlich mal wieder bei Lara. Ich wusste gar nicht, ob sie inzwischen ihren Ersatzschlüssel zurück hatte oder ob den noch Mats bei sich trug. Ich erzählte Lara nur kurz, dass es mir die letzten Tage nicht gut ging und einige Zeit für mich gebraucht hatte. Dann gab ich ihr das Update, dass Wincent gerade hier war und beendete die Sprachnachricht.
Als es an der Tür klingelte, stand ich vom Sofa auf, aber Wincent war schon an der Tür. Scheinbar war Mats gekommen und hatte keinen Schlüssel in der Tasche. Oder er wollte uns vorwarnen. Auf jeden Fall ging ich mit Fritz in die Küche und wir warteten dort auf unseren Besuch.
„Guten Morgen, ihr zwei", hörte ich kurz darauf auch schon Mats Stimme.
„Guten Morgen, Mats."
„Hast du gut geschlafen?", erkundigte er sich.
„Ja. Danke."
„Du siehst auch schon deutlich besser aus. Habt ihr eigentlich Frühstückshunger?"
„Natürlich", mischte sich Wincent ein. „Anna? Kaffee oder Tee?"
„Gerne Tee", antwortete ich.
„Brauchst du etwas?", wandte sich Wincent an Mats.
„Nö. Hab mein Red Bull dabei, danke."
Wincent setzte sich zu uns an den Tisch und stellte mir eine Tasse Tee und sich einen Kaffee hin. Mats zählte auf, was er alles gekauft hatte und mir stellte sich die Frage, wie viele Leute er heimlich noch eingeladen hatte. Während des Essens, ich schaffte tatsächlich ein ganzes Brötchen, redeten wir einfach über alles Mögliche. Als Mats seinen Podcast erwähnte, wusste ich schon, was ich mir anhören wollte. Das hätte ich ja gerne schon früher gewusst, aber besser spät als nie. Der andere Fotograf sagte mir zwar nichts, ebenso wenig wie die Elevator Boys, aber das war vielleicht nicht ganz so wichtig.

Wincent

Nach dem Frühstück, was sich endlich wieder ein bisschen normal anfühlte, ging Anna Zähne putzen. Mats half mir beim Abräumen des Tisches.
„Und? Was denkst du?", fragte er und ich wusste sofort, was er meinte.
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Im Moment wirkt sie so, als könnte es klappen. Aber wir haben nur noch heute. Morgen ist Friedrichshafen und das sind acht Stunden von hier."
„So schnell klappt das doch bestimmt eh nicht. Was ist denn nach Osterode. Da ist doch eine längere Pause", schlug Mats vor.
Ich dachte kurz nach. „Könnte passen."
„Okay. Dann redest du jetzt endlich mit ihr und ich dreh solange eine Runde mit Fritz."
„Aber nicht, dass du irgendwann Geld dafür verlangst", grinste ich.
„Ne. Passt schon", erwiderte er. „Es reicht mir, wenn du auf der Tour genug Konzentration hast und wir hoffentlich das ein oder andere TikTok drehen können."
„Deal", sagte ich und während Mats mit Fritz im Flur verschwand, machte ich es mir auf dem Sofa bequem.
„Wince?", fragte Anna.
„Im Wohnzimmer", antwortete ich.
„Wo sind Fritz und Mats?", fragte sie und tauchte im Türrahmen auf.
„Draußen. Komm her." Ich klopfte neben mich auf die Couch.
Anna kam zu mir und kuschelte sich an mich. Ich hielt sie fest und suchte nach den passenden Worten. Das war gar nicht so einfach, obwohl ich selbst die Situation ja kannte. Eigentlich müsste ich ja wissen, was die andere Person brauchte, aber ich hatte einfach keine Ahnung.
„Wince?", unterbrach Anna die Stille.
„Ja?"
„Ich..." Sie brach ab. „Ich will... nicht noch... einmal in..."
„Shh", beruhigte ich sie. „Musst du nicht."
„Aber ich kann nicht alleine..."
„Ich weiß." Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „Du kannst aber einfach zu einem Therapeuten gehen. Ohne Klinik. Nur zu deinem Termin und dann wieder nach Hause."
„Ich weiß nicht..."
„Mein Therapeut ist leider in Hamburg, aber Mats kennt eine Therapeutin hier in Berlin. Du könntest einen Termin ausmachen und wenn es passt, dann bleibst du da. Wenn nicht, dann schauen wir weiter."
Anna schwieg und ich ließ sie in Ruhe nachdenken. Solche Entscheidungen erforderten eine Menge Kraft, das wusste ich.
„Ich kann das nicht alleine", sagte sie irgendwann leise.
„Du bist nicht alleine", erwiderte ich. „Ich bin da und Mats kannst du auch immer fragen. Lara vielleicht auch. Du musst ihr ja nichts von der Essstörung erzählen, wenn du nicht willst. Eine Therapie kann viele Gründe haben. Und ich hab meinem besten Freund Marco auch erst nach den ersten Terminen erzählt, warum ich das überhaupt mache."
„Hat er nicht gefragt?", wollte Anna wissen.
„Nein. Er wusste, ich würde es ihm sagen, wenn ich soweit war."
Anna schwieg wieder und ich spürte, wie sie innerlich mit sich rang. Sie hatte das Thema von sich aus angeschnitten, also hoffte ich, dass sie bereit war, den letzten Schritt dann auch zu gehen.
„Kommst du dann mit?"

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt