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Wincent

„Äh..." Ich war kurz überfordert. „Ja."
Ich sah zu meiner Schwester. „Ist das so offensichtlich?", fragte ich.
„Ich bin deine Schwester, Winnie. Natürlich merk ich das", erwiderte sie. „Und ich find den Song richtig süß."
„Du hast ihn gehört?", fragte ich leicht überrascht.
„Willst du meine Spotify-Streams sehen?", antwortete sie grinsend.
„Lieber nicht", erwiderte ich lächelnd. „Und ich dachte, meine Fans haben das Album rauf und runter gehört."
„Haben sie ja bestimmt auch. Außerdem bin ich doch auch Fan. Sogar von der ersten Stunde an."
Mir fiel wieder auf, wie gut Anna in diese Familie passte. Sie war genauso schlagfertig wie meine kleine Schwester.
„Hast du ihr den eigentlich zu Weihnachten geschenkt?", fragte Shay.
„Was?"
„Anna, den Song."
„Achso, ne. Den kannte sie schon vor Release."
„Was hast du ihr dann geschenkt?", wollte meine kleine Schwester neugierig wissen.
„Noch nichts", gab ich zu. „Sie bekommt das erst am 27., weil ich will, dass ihr Vater dabei ist."
„Wieso? Du hast ihr nicht wirklich..."
„Wincent! Shayenne!", unterbrach der Ruf unserer Mutter das Gespräch.
„Wenn du an den Flyer denkst, ja. Aber halt bloß die Klappe", raunte ich meiner Schwester zu, bevor wir die Küche verließen.
„Wann hab ich jemals meine Klappe nicht gehalten?", flüsterte sie zurück. „Ich kann das mit dem erst nachdenken und dann reden."
„Shay! Wincent!" Opa warf uns einen tadelnden Blick zu. „Es ist Weihnachten, könnt ihr nicht wenigstens da nett miteinander umgehen?"
„Opa, wir diskutieren nur", widersprach Shay.
„Und wir sind auch schon fertig", ergänzte ich und warf meiner Schwester einen letzten Blick zu, der keinen Widerspruch zuließ.
„Soo, dann kommen wir mal zu unserem jährlichen Weihnachtssingen", sagte Oma. „Ihr wisst ja..."
„... sonst gibt es keine Geschenke", antworteten Mum, Shay, Opa und ich im Chor.
Meine Großeltern sahen mich erwartungsvoll an.
„Was?", fragte ich.
„Willst du uns nicht auf dem Klavier begleiten?", fragte Oma.
„Ähm, ich kann kein Klavier spielen. Also nur ein Lied", gestand ich.
„Hä? Ich dachte, du verdienst damit dein Geld", warf mein Opa ein.
Ich seufzte, denn dieses Gespräch führten wir fast jedes Mal. „Oma, Opa, ich verdiene Geld damit, Songs zu schreiben und zu singen. Für das Spielen von Instrumenten habe ich meine Band", erklärte ich.
Anna rettete mich. „Wir singen einfach a capella. Das habe ich mit meinem Vater auch jedes Jahr gemacht und es reicht vollkommen aus. Vor allem kann man damit dann auch schon in der Küche anfangen, während man aufräumt."
Der Vorschlag wurde angenommen und ich war erst einmal aus der Schusslinie. Ich setzte mich neben Anna auf die Couch und nahm ihre Hand in meine. Dankbar drückte ich sie und ihr Lächeln signalisierte mir, dass sie es verstanden hatte. Meine Mum verteilte drei Liederbücher und behielt eins für sich. Dann stimmten wir nacheinander die klassischen Weihnachtslieder an. Shay sah mich irgendwann abwartend an und begann dann a capella die erste Strophe von ‚Bist du bereit' zu singen. Meine Mum und meine Großeltern schwiegen verwirrt und ich stieg einfach irgendwann in den Song mit ein. Shay nickte am Ende des Liedes in Annas Richtung. Also machte ich eine kurze Pause und stimmte ‚Weihnachten zu zweit' an, wo neben Shay auch Anna direkt mit einstiegen. Der Rest der Familie applaudierte, als wir geendet hatten.
„Gibt es jetzt Geschenke?", fragten meine Schwester und ich gleichzeitig, was beim Rest für Gelächter sorgte.

Annalena

Ich fühlte mich bei Wincents Familie sofort wohl und das gemeinsame Singen machte mir unheimlich Spaß. Vor allem, mit meinem Freund und seiner Schwester meinen Song zu singen, bereitete mir Gänsehaut am ganzen Körper. Es war alles andere als gerade, aber der Moment zählte. Die anderen packten nach und nach ihre Geschenke aus und auch für mich gab es welche, was mich kurz überraschte. Wincents Großeltern hatten ein Paar warme, gestrickte Socken für mich. Von Angela bekam ich, vermutlich in Absprache mit ihrem Sohn, neue Kopfhörer für mich besorgt. Meine waren leider vor einigen Wochen kaputt gegangen und ich hatte es einfach nicht geschafft, neue zu besorgen. Shay überreichte mir einen Gutschein für ein Mädelswochenende in London.
„Wince, was habt ihr euch eigentlich geschenkt?", wollte Angela dann von ihrem Sohn wissen.
„Anna bekommt ihr Geschenk erst später, damit ihr Vater dabei sein kann", antwortete mein Freund. „Und bis dahin bleibt es eine Überraschung."
„Und was hast du von deiner Freundin bekommen?", hakte nun Shay nach.
„Ähm... Ich könnte es euch zeigen oder..." Er brach ab und wandte sich mir zu. „Du könntest es live machen. Ich hab ein Klavier hier, wenn du willst", flüsterte er mir leise zu.
„Ich weiß nicht...", erwiderte ich unsicher.
„Komm, du hast es doch schon einmal geschafft", ermutigte er mich. „Spring über deinen Schatten. Ich weiß, dass du das kannst."
„Okay. Aber nur unter einer Bedingung", sagte ich.
„Welche?"
„Du singst die zweite Strophe, steigst da also mit ein."
„Okay. Deal."
Wir standen vom Sofa auf und Wincent führte mich zum Klavier. Ich setzte mich hin und fuhr einmal über die Tasten.
„Was...?", setzte Shay an, aber hielt sofort wieder die Klappe.
„Ihr wolltet wissen, was Anna mir zu Weihnachten geschenkt hat und das werdet ihr jetzt erfahren", sagte Wincent.
Er legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie leicht.
„Du kannst das und ich bin wahnsinnig stolz auf dich", flüsterte er mir zu.
Ich legte die Finger in die Position, die Manu mir beigebracht hatte. Vorsichtig schlug ich die ersten Akkorde an und als sie stimmten, nahm ich mutiger. Ich ließ mich komplett in den Song fallen und mit Wincent an meiner Seite ging es sehr gut. Wie abgesprochen, übernahm er ab der zweiten Strophe und den Rest sangen wir dann gemeinsam. Ich musste zugeben, dass ich diese Version fast noch schöner fand.
Als der letzte Ton verklungen war, herrschte absolute Stille.
„Wieso... habt ihr denn... nicht vorher gesagt, dass... Anna so fabelhaft... Klavier spielen... kann?", fand Angela zuerst die Sprache wieder.
„Ähm, ich kann nur diesen einen Song", gab ich ehrlich zu. „Manu hat ihn mir über Monate hinweg beigebracht."
„Und damit hast du Wince gestern überrascht?", wollte Shay wissen.
„Ja", antworteten Wincent und ich gleichzeitig.
„Mats hat es auch gefilmt", ergänzte ich noch.
„Das Video brauch ich", rief Shay direkt und Wincent versprach, dass er ihr zuschickte.
„Wincent?", wandte sich Hans an seinen Enkelsohn.
„Ja?", fragte mein Freund.
„Diese Frau ist mehr wert als Gold. Halt sie so fest, wie du kannst und pass gut auf sie auf."
„Werde ich, Opa. Da kannst du dir sicher sein", erwiderte mein Freund und griff nach meiner Hand.
Das war auf jeden Fall jetzt schon das emotionalste Weihnachtsfest meines Lebens. So genoss ich es noch, mit seiner Familie zusammen zu sitzen, zu reden und zu lachen. Wincent hatte zwischendurch einen Anruf bekommen und war nach oben verschwunden. Ich ging nach einiger Zeit mal nachschauen. Von draußen hörte ich, dass er noch immer mit jemandem redete. Eigentlich wollte ich nicht lauschen, aber als mein Name fiel, hatte er dann doch meine Aufmerksamkeit.
„Man, Marco. Anna hat mir zwei super krasse Geschenke zu Weihnachten gemacht. Das kann ich ihr gar nicht zurückgeben."
Was Marco antwortete, hörte ich leider nicht.
„Ja, das sagt sie auch. Trotzdem..."
Okay, ich sollte verschwinden.
„Warte mal, ich muss mich mal kurz nebenbei umziehen. Ich stell dich mal auf Lautsprecher", hörte ich Wincent sagen und dann raschelte etwas.
Vielleicht noch kurz.
„So. Jetzt."
„Also", kam es von einer mir unbekannten Stimme. Wobei, halt. Ich hatte sie einmal gehört... In Hamburg. Am letzten Abend.
„Bro, du hast jetzt wie viele Monate ohne das überlebt? Ist auch egal. Fakt ist, zwei Tage wie früher werden dich nicht umbringen. Ist ja nicht wie im Kloster."
„Ich weiß, aber..."
„Aber was?", wollte Marco wissen.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now