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Wincent

Bis nach Hamburg zu Annas Vater war es nicht so weit, was mich sehr glücklich machte. Immerhin konnten wir dann immer unsere Familien besuchen und selbst wenn wir mal nicht gemeinsam zu Besuch waren, war die Entfernung gering. Wir waren relativ früh aufgebrochen, damit meine Mutter und Shay nicht auf die Idee kamen, uns länger da behalten zu wollen. Ich kannte meine Familie immerhin ziemlich gut und sie liebten Anna. So hatten wir viel Zeit und ich beschloss, mal nicht direkt über die Autobahn zu fahren. Wir hatten endlich mal wieder Schnee und ich genoss die weiße weite Landschaft sehr. Anderthalb Stunden später parkte ich in einem Parkplatz in der Nähe von Tims Wohnung. Dort war echt viel Platz, wahrscheinlich weil sich an den Weihnachtstagen wenige Touristen nach Hamburg verirrten. Da hier wirklich niemand war, brachte mich das auf eine Idee.
„Schatz? Bist du jemals Auto gefahren? Also so Kart oder sowas?", wollte ich von Anna wissen.
„Nein. Wieso?"
„Willst du es mal ausprobieren?"
„Was?" Sie sah mich fragend von der Seite an.
„Na, Auto fahren", antwortete ich.
„Ohne Führerschein und blind?"
„Hier ist niemand. Außerdem seh ich doch alles. Komm schon, wir haben noch fast eine Stunde und was soll schon passieren?"
Ich sah, wie Anna nachdachte. Gespannt wartete ich auf ihre Antwort.
„Und wie soll das gehen?"
Das wollte ich hören. „Pass auf, du kommst auf meinen Schoß und dann sag ich dir genau, was du machen musst. Keine Sorge, ich hab alles unter Kontrolle. Wir drehen hier kurz eine Runde auf dem Platz und dann parkst du ein."
„Bist du sicher, dass das so einfach geht?", hakte Anna nach.
„Wenn du es niemandem verrätst, ja."
Anna zögerte noch einen Moment, aber schließlich stimmte sie zu. Ich würde aus ihr noch einen Adrenalinjunkie machen. Ich war so stolz auf Anna, dass sie immer wieder über ihren Schatten sprang, auch wenn die Aktion heute definitiv anthrazit war. Doch wer sollte etwas sagen? Hier war einfach keine Menschenseele.
„Bereit?", fragte ich Anna und sie nickte zaghaft.
Ich schnallte mich ab und lief dann einmal ums Auto herum. Anna stieg ebenfalls aus und ich führte sie auf die Fahrerseite. Ich kletterte zuerst auf den Sitz und schob ihn ein Stückchen weiter nach hinten. Dann zog ich meine Freundin zu mir und ließ sie sich zwischen meine Beine setzen. Es passte gerade so, aber ich musste ja nicht wirklich an die Pedale ran. Zum Glück war der BMW ein Automatik- Auto, sonst hätte ich so eine Aktion auch ehrlicherweise nicht gemacht. Schalten war einfach echt komplex.
„Pass auf, du hast rechts ein Pedal für Gas. Und links ist die Bremse."
„Okay", erwiderte Anna.
„Gut. Dann legst du die Hände hier hin", sagte ich und platzierte sie auf dem Lenkrad.
„Du darfst aber nicht loslassen", sagte sie.
„Mach ich nicht. Versprochen. Also, der Motor ist schon an, jetzt kannst du ganz langsam Gas geben", erklärte ich.
Ganz konzentriert und sehr vorsichtig drückte Anna das Pedal.
„Trau dich, es passiert nichts."
Wir rollten in Schritttempo los und inzwischen war sie wieder ruhig. Beim ersten spürbaren Rollen wäre Anna fast in Panik ausgebrochen. Doch jetzt ging es so langsam.
„Gleich musst du nach rechts lenken", sagte ich und gab ihr mit meiner Hand ganz leicht vor, wie weit sie das Lenkrad drehen musste.
„Sehr gut", lobte ich, als wir die Kurve gemeistert hatten.
„Ich fahre wirklich Auto. Wow." Es klang Begeisterung in Annas Stimme mit, was mich wirklich glücklich machte.
Auch wenn das hier wirklich nicht die klügste Idee war. Doch was sollte es? Ich brauchte manchmal so einen kleinen Adrenalinkick. Vor allem jetzt in der Weihnachtszeit mit den ganzen Emotionen tat mir das ganz gut. Die nächsten Kurven schaffte Anna auch und so langsam schien sie Gefallen daran gefunden zu haben, was mich natürlich schon wieder auf eine Idee brachte. Ich musste nachher mal jemandem schreiben. Dafür gab es ganz sicher eine Lösung, sonst musste er sich etwas einfallen lassen.

Annalena

Auch wenn ich Wincent am Anfang für lebensmüde gehalten hatte, musste ich zugeben, dass es sogar richtig Spaß machte. Vielleicht musste ich doch mal so eine Indoor-Kartbahn ausprobieren. Lara, Mats und Shay kamen bestimmt gerne mit. Ich konnte verstehen, warum mein Freund so gerne Auto fuhr, auch wenn wir wirklich nicht schnell fuhren.
„So, Anna. Nächste Lektion ist einparken", verkündete Wincent.
„Okay...", erwiderte ich gedehnt, denn wie das blind gehen sollte, fiel mir wirklich nicht ein.
„Ich hab da neulich etwas gesehen. Wollen wir das mal ausprobieren?"
„Was?"
„Wie gut kann Fritz sehen und Entfernungen einschätzen?"
„Ziemlich gut. Immerhin ist er darauf trainiert."
„Sehr gut. Dann lassen wir Fritz als deinen Assistent arbeiten. Keine Sorge, ich hab auch noch eine Rückfahrkamera."
„Okay..."
„Steig mal kurz aus", bat Wincent mich und drückte den Motor aus.
Mein Freund stieg auch aus und holte Fritz zu uns. Dann griff Wincent nach meiner Hand und führte mich ein Stück. Fritz blieb schön an meiner Seite und gehorchte, als ich auf Wincents Wunsch, ihn sich setzen ließ.
„Jetzt muss er bellen, wenn das Auto zu nah kommt. Kann er das?"
„Bestimmt." Ich redete kurz mit meinem Hund und als er bellte, stand ich wieder auf.
„Okay, versuchen wir es."
„Sag mal, piept dein Auto nicht normalerweise alleine?", fragte ich, als mir einfiel, dass das bei Lara so war.
„Ne. Hab den Ton ausstellen lassen, weil mir das auf den Wecker ging."
Ich musste schmunzeln, denn ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie Wincent darüber fluchte, wenn das Auto versuchte, ihn zu bevormunden. Wir stiegen wieder genauso ein wie davor und Wincent startete den Motor. Dann ließ er das Fenster herunter, damit wir Fritz auch hören konnten und mit meiner rechten Hand ließ er mich einen Hebel umlegen.
„Jetzt hast du den Rückwärtsgang drin", erklärte er. „Fritz sagt dir, wenn du bremsen musst und ich sehe auf den Kameras auch alles. Also ganz langsam Gas geben."
Ich tat, was er sagte und zuckte kurz zusammen, als wir rückwärts fuhren. Das war einfach nochmal ein ganz anderes Gefühl. Doch Wincent beruhigte mich direkt wieder und so ließ ich das Auto einfach rollen. Zumindest solange, bis mein Hund bellte. Ich trat auf die Bremse und tatsächlich standen wir kurz darauf.
„Sehr gut", lobte Wincent mich. „Wir schauen mal, aber ich glaube, du stehst ganz gut."
Ich wollte gerade aus dem Auto steigen, als er mich festhielt.
„Was?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now