108

123 16 4
                                    

Wincent

„Sie hat aufgehört, bevor sie die Chance hatte." Seine Stimme wurde gegen Ende leiser.
„Nicht freiwillig, oder?", hakte ich vorsichtig nach.
„Nein."
Ich fragte nicht weiter nach, denn ich ahnte, worauf er hinauswollte. Das wollte ich ihm jetzt nicht antun, denn ich konnte mir annähernd vorstellen, wie es ihm damals ging.
„Sie schafft das heute Abend. Und dann geht ihr Traum in Erfüllung", sagte ich also nur.
Tim lächelte dankbar. „Ich glaube, dass der heutige Abend mehr wird als nur die Erfüllung ihres Traums."
„Weil?"
„Du bist dabei."
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, deshalb nahm ich einfach einen Schluck von meinem Kaffee.
Wir wechselten dann auch einfach das Thema und als Anna wach war, gab es Frühstück. Der Vormittag verflog nur so, während wir durch Hamburg schlenderten. Tim musste leider arbeiten und so zogen Anna, Fritz und ich alleine los. Ich genoss dieses Wochenende jetzt schon, denn ich konnte drei Tage lang nur Wincent sein. Ich war ein glücklicher Mann, der mit seiner Freundin und dem Hund den Samstagvormittag genoss. Zum Mittagessen trafen wir dann Tim und Steffi, denn beide hatten sich den Nachmittag frei genommen. Immerhin brauchte Anna für heute Abend noch ein schönes Outfit und das war unsere Challenge. Wir waren in sämtlichen Läden und irgendwann hörte ich auf zu zählen, wie viele Kleider Anna anprobiert hatte. Ich hasste shoppen, aber gemeinsam mit meiner Freundin, Tim und Steffi war es ganz angenehm. Schließlich fand Anna auch ein Kleid, in dem sie nicht nur traumhaft aussah, sondern es erfüllte auch alle Kriterien, damit sie darin tanzen konnte. Gegen sechzehn Uhr hatte sie dann Kleid, Schuhe und Accessoires zusammen. Wir fuhren in die Wohnung und lümmelten noch ein wenig auf der Couch. Tim und ich waren ziemlich fertig vom Einkaufen, aber Anna hatte super viel Energie. Es fiel mir schwer, sie ein wenig wieder zu erden. Zwei Stunden vor Beginn des Balls ging Anna duschen und danach gab es keine ruhige Minute mehr. Ich musste auch noch duschen und mich umziehen, denn die drei hatten darauf bestanden, dass wir uns alle an die Kleiderordnung anpassen. Also schlüpfte ich in einen schlichten, schwarzen Anzug und half Anna dann beim Anziehen ihres weiß-roséfarbenen Kleides. Die Frisur würde vor Ort eine Stylistin machen, also war ich da schön raus.
„Wow, ihr seht fabelhaft aus", sagte Tim, als Anna und ich ins Wohnzimmer kamen.
„Meine Frisur sitzt noch gar nicht richtig. Fotos bitte also erst nachher", erwiderte Anna.
Tim und ich grinsten uns an.
Wir fuhren zu den Elbbrücken und vor Ort war schon ziemlich was los. Anna wurde direkt von einer Stylistin abgefangen und Tim, Fritz und ich sahen uns schon einmal um. Steffi stieß relativ schnell dazu und wir suchten uns einen ruhigen Tisch, wo wir auf Annas Anruf warteten.
Sie sah umwerfend aus, das konnte man nicht anders sagen. Ich schaute sie einfach nur an und sagte mir innerlich, dass sie zu mir gehörte. Heute kam es mir mehr denn je wie ein Traum vor. Ich gab ihr einen kurzen Kuss und dann hakte sie sich bei mir unter, als wir uns zu den ganzen Menschen gesellten. Sogar Fritz wurde zur Feier des Tages herausgeputzt und trug stolz eine Fliege um den Hals. Viel zu schnell verging die Zeit und Annas Auftritt rückte näher. Ich hatte Silke inzwischen kurz kennengelernt und auch Luke, Annas Tanzpartner, gesehen. Meine Freundin wurde immer nervöser und umklammerte meine Hand.
„Hey, du schaffst das. Ich weiß es", sagte ich beruhigend und zog sie an meine Brust.
„Ich kann das nicht", murmelte sie.
„Natürlich kannst du das", widersprach ich. „Du. Kannst. Das."
Fünf Minuten vor dem Auftritt musste ich mich von Anna verabschieden, was ihr vermutlich schwerer fiel als mir. Ich gab ihr noch einen Kuss und machte mich dann mit Fritz auf die Suche nach Tim und Steffi. Es gab eine kurze Begrüßungsrede, in der dann Anna und Luke vorgestellt wurden. Beide schienen nicht ganz unbekannt zu sein, denn es ging ein Raunen durch die anwesende Menge.
„Ist Anna hier so etwas wie ein Star?", flüsterte ich Tim zu.
„Vielleicht ein bisschen. Auf jeden Fall hätte sie hier eine großartige Karriere gehabt. Doch nach der Zeit wollte sie nur weg und hat alles aufgegeben", erklärte er mir leise.
Wow. Meine Freundin wäre fast ein Musical-Star geworden.

Annalena

Die Zeit ohne Wincent war die schlimmste des Tages. Luke kam zwar kurz danach, aber es war nicht das Gleiche.
„Hey Anna. Erinnerst du dich?", fragte Luke. „Stell dir einfach vor..."
„... das Publikum wäre nicht da", beendete ich seinen Satz. „Es gibt nur uns beide, die Musik und eine Welt, die niemand anderes sehen kann."
„Genau."
„Meinst du, das funktioniert nach so langer Zeit immer noch?", hakte ich nervös nach.
„Klar. Ich mache das vor jedem Auftritt für mich. Niemand außer uns beiden weiß davon, also psst."
„Ich verrate nichts", versprach ich.
„Dann ist ja gut." Ich hörte Lukes Lächeln.
Als unsere Namen ertönten und damit unser Auftritt angesagt wurde, sprang ich kurz auf und ab. Mein Puls stieg automatisch und ich spürte nur noch Panik.
„Hey Anna. Ruhig", sage Luke und nahm meine Hand. „Einatmen und ausatmen. Augen schließen und dann stellst du dir den Ort vor, an den wir gleich reisen."
Ich versuchte, seinen Worten Folge zu leisten uns es gelang mir tatsächlich ziemlich gut. Krass, dass sich einige Dinge auch nach so langer Zeit nicht änderten. Ich war vor Auftritten schon immer ein Nervenbündel gewesen und Luke total cool. Kein Wunder, dass er jetzt auf der Bühne stand.
„Anna. Jetzt ist Showtime. Zeigen wir Ihnen, was wir können, okay? Das ist unser Moment."
„Okay", antwortete ich und ließ mich von Luke führen.
Er hatte sich noch nie von meiner Blindheit abschrecken lassen und verriet mir sogar mal, dass er es liebte, mit mir zu tanzen. Ich konnte schließlich nicht auf meine Füße schauen und das erleichterte ihm die Führung. Ich war darauf angewiesen, ihm zu vertrauen, denn wir hatten fast nie eine Choreografie.
Sobald wir die Grundhaltung eingenommen hatten und die Musik begann, schaltete ich in einen Automatikmodus. Ich wusste, was kam und tatsächlich funktionierte der Trick von damals noch heute. Ich nahm nichts anderes wahr, außer den Impulsen von Luke, die mir sagten, was als Nächstes kam. Es fühlte sich so unfassbar gut an, wieder zu tanzen. Nur dieser Moment zählte und das Gefühl von meinen Füßen, die über den Boden zu schweben schienen. Im Laufe des Liedes wurde Luke mutiger und steigerte den Schwierigkeitsgrad der Schritte. Manchmal flüsterte er mir als Hilfe Stichworte zu oder erinnerte mich an Tricks von damals. Der Song verflog nur so und schließlich blieben wir stehen. Kurz hörte ich gar nichts, weil ich noch komplett in der Tanzwelt war. Dann jedoch hörte ich den Applaus und wir verbeugten uns, wie wir es gelernt hatte. Wir waren gut. Ich war gut.
„Tausend Dank, Anna." Luke nahm mich kurz in den Arm. „Das war echt schön."
„Ja. Ich danke dir", erwiderte ich.
Im nächsten Moment hörte ich Luke lachen. „Wer bist du denn?", fragte er.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now