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Wincent

Ich sprang vom Sofa auf und folgte Anna ins Schlafzimmer. Während sie ihr Kleid anzog, schlüpfte ich schnell in den Anzug. Ich half Anna noch beim Schließen des Kleides und dann zogen wir unsere Schuhe an. Zur Sicherheit nahm ich Annas Jacke auch mit und packte sie ins Auto. Fritz war mir gefolgt und sprang fröhlich auf die Rückbank. Ich half Anna beim Einsteigen, sprintete dann nochmal zur Tür, um abzuschließen, und dann setzte ich mich hinters Steuer. Wir mussten nur kurz fahren, denn Maria würde auf Fritz aufpassen. Er fand das nicht ganz so gut, aber als dann die Tüte mit den Leckerchen raschelte, konnte ich schnell fliehen und dann ging es endlich los. Die Strecke bis zur Stadt kannte ich inzwischen und eventuell hielt ich mich nicht ganz so genau an die zugelassenen Höchstgeschwindigkeiten. Von mir selbst ein wenig überrascht, parkte ich zehn Minuten vor Konzertbeginn das Auto. So viel Zeit wollte ich gar nicht rausholen, aber ich hatte auch keinen Blitzer gesehen. Da wir nun wirklich pünktlich waren, stieg meine Laune noch mehr in die Höhe.
„So, wir sind da und sogar rechtzeitig", verkündete ich.
„Ich sag nichts weiter dazu."
„Besser so, denn dann würden wir wirklich zu spät kommen."
Ich stieg aus und half Anna dann auch hinaus. Wir liefen gemeinsam zur Konzerthalle und als wir am Fuß der Treppe ankamen, ließ ich Annas Hand kurz los. Immerhin wollte ich das Konzert heute besonders genießen und das ging nur, wenn ich genau wie Anna war. Also verband ich mir schnell die Augen und griff dann wieder nach der Hand meiner Freundin. Vorsichtig gingen wir die Treppen hinauf und ich bemühte mich ernsthaft, nicht zu fallen. Dafür, dass ich sonst ein ziemlicher Tollpatsch war, ging es ganz gut. Drinnen fiel mir die Orientierung dann schon etwas schwerer, aber das Personal war gut.
„Schönen guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?", wurde ich freundlich von der Seite angesprochen, weshalb ich kurz zusammenzuckte.
„Ähm, gerne", antwortete ich dennoch und nahm mein Handy heraus.
Dank den Sprachbefehlen, die ich mit Mats Hilfe eingebaut hatte, fand ich auch, was ich suchte. Der Mann wies mich an, meine Hand auf seine Schulter zu legen und so führte er uns zu unseren Plätzen. Wir bedankten uns und nahmen Platz.
„Bereit?", fragte ich Anna.
„Oh ja. Und du?"
„Auch. Ich freu mich, mal nicht selbst auf der Bühne zu sein."
„Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen", erwiderte meine Freundin.
„Ich kann kein Instrument spielen, also außer ein bisschen Geklimper auf dem Klavier und der Gitarre."
„Achso." Sie lachte leise. „Das ist natürlich ein Argument. Lass ich gelten."
„Sehr großzügig", konterte ich.
Das ganze Konzert über hielten Anna und ich uns an den Händen. Irgendwann lehnte sie ihren Kopf gegen meine Schulter und ich genoss es. Zwei Stunden lang konnten wir wirklich mal komplett abschalten und die Musik lud wirklich zum Träumen ein. Es schien, als gäbe es die Realität nicht mehr, als hätte sie keine Bedeutung. Gestern, später und morgen wurden irrelevant. Es gab nur ein traumhaftes Hier und Jetzt.

Annalena

Mit Wincent auf ein klassisches Konzert zu gehen war wieder einmal eine Premiere. Vor allem, weil ich natürlich schon gecheckt hatte, dass er dieses Erlebnis ebenfalls blind machen wollte. Wie schaffte er es immer wieder mich mit so Kleinigeiten zu überraschen? Meinetwegen müsste er all das nicht machen, aber er war eben so. Und ehrlicherweise gab es mir ein gutes Gefühl, dass uns solche Momente dann nochmal auf besondere Weise verbanden. Als der letzte Ton verklungen war, brandete sofort Applau auf. Ich wollte nicht, dass es vorbei war, wollte nicht sofort zurück in die Realität. Wincent schien es genauso zu gehen, denn als wir die ersten Leute an uns vorbeigehen hörten, blieben wir einfach sitzen. Ich sog nochmal das Feeling dieses Ortes ein und versuchte es abzuspeichern, um mich jederzeit hierhin zurückträumen zu können.
„Wince?", fragte ich irgendwann.
„Ja?"
„Ich will noch nicht wieder nach Hause."
„Ich auch nicht", gab er zu. „Sollen wir noch etwas Trinken gehen?"
„Klingt gut."
„Perfekt. Dann gehen wir mal raus."
Er stand auf und half mir dann hoch. Das ging auch, wenn wir beide blind waren. Ein Mitarbeiter brachte uns zur Eingangstreppe, die wir langsam hinuntergingen.
„Warte kurz", bat mich Wincent und ich nahm an, dass er die Augenbinde abnahm. „So, jetzt können wir noch den Abend mit einem entspannten Bier ausklingen lassen."
„Dann mal los."
Er griff wieder nach meiner Hand und gemeinsam zogen wir los. Dass wir für eine Bar mehr als overdressed waren, vergaßen wir beide in dem Moment. Nebeneinander liefen wir entspannt durch die Stadt und dann lotste mich Wincent in eine Bar. Hier herrschte schon ordentlich Stimmung, sodass ich Wincents Hand direkt fester hielt.
„Keine Sorge, ich pass auf dich auf", murmelte er mir ins Ohr.
Er führte mich durch die Menschenmenge und schließlich wurden es weniger Menschen. Ruhiger wäre gelogen, aber man konnte sich wenigstens etwas freier bewegen.
„Komm, wir setzen uns", sagte Wincent und zog mich neben sich auf eine Bank. „Alles gut?"
„Ja, alles okay."
„Was willst du trinken? Bier?"
„Gerne."
„Okay, dann musst du einmal kurz aufstehen und dann kannst du ein wenig weiter reinrutschen. Ich hol uns schnell Getränke."
„Okay."
Ich stand auf, Wincent tauschte mit mir die Plätze und verschwand dann. Ich versuchte die ganzen Eindrücke zu sortieren, aber das war verdammt schwer. Ich wusste, wieso ich normalerweise nicht auf Partys ging.
„Hey, bin wieder da", erlöste mich Wincent kurze Zeit später.
Ich rutschte zur Seite und er nahm wieder neben mir Platz. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich schon deutlich sicherer und wohler.
„Hier." Er schob mir ein Glas Bier zu.
„Danke."
„Auf einen wunderschönen Urlaub und einen tollen Abend."
„Prost."
Wir stießen an und nahmen jeder ein Schluck Bier. Unterhalten war hier aufgrund der Laustärke nahezu unmöglich, weshalb unsere Getränke nicht lange hielten.
„Lass uns tanzen", schlug ich vor.
„Anna, du weißt, dass ich...", begann Wincent.
„Komm schon", unterbrach ich ihn. „Behaupte doch nicht schon wieder, dass du es nicht kannst. Wir haben das doch geübt."
„Aber in einer Bar tanzt man keinen Walzer."
„Sei jetzt kein Spielverderber und komm mit", bettelte ich. „Ich bezweifle, dass hier irgendjemand tanzen kann."
„Okay", gab er schließlich nach und stand auf.
Er reichte mir seine Hand und wir mischten uns unter die anderen Leute. Wincent legte seine Hände auf meinen unteren Rücken und ich umschlag mit meinen Armen seinen Hals. So fühlte ich mich am sichersten in der Menschenmenge. Die Musik war sehr schnell, aber das ignorierten wir einfach. Während um uns herum Leute herumsprangen, tanzten wir zu einem Lied, das nur wir beide hören konnten. Es war ein wenig so, als gäbe es die anderen Menschen gar nicht, sondern nur ihn und mich.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now