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Wincent

In den Tagen bis zum Auflug in den Kletterwald, hatte Anna noch eine weitere Therapiestunde. Ich war in der Zwischenzeit wieder im Gym und merkte, wie gut mir der Sport tat. Anna wollte langsam wieder arbeiten und so brachte ich sie morgens zur Arbeit. Lara versprach mir, einen Blick auf sie zu haben, sodass ich zu Philipp ins Studio fuhr. Ich erzählte ihm von meiner Idee, für Anna einen Song zu schreiben und dann fingen wir mit Brainstorming an. Nach zwei intensiven Vormittagen stand bereits der Refrain und so verabschiedete ich mich guten Gewissens von Philipp. Gut gelaunt setzte ich mich ins Auto, um Anna und Fritz abzuholen.
„Moin", sagte ich und betrat den Laden.
Im nächsten Moment sprang Fritz schon an mir hoch. Ich streichelte ihm über den Kopf und das schien zu reichen. Jetzt setzte er sich nämlich ganz brav neben mich und wartete.
„Hey", antwortete Anna mir.
„Bereit?", wollte ich von ihr wissen.
„Ich sag nur kurz Lara noch Tschüss."
„Kein Stress. Wir haben Zeit."
Sie nickte und ich blieb kurz alleine mit Fritz zurück. Der forderte natürlich gleich wieder Streicheleinheiten und was wäre ich für ein Unmensch, wenn ich das ignorieren würde?
Mit Anna und Fritz ging es dann nach Hause, aber nicht lange. Es mussten nur die letzten Sachen gepackt werden und dann saßen wir bereits wieder im Auto. Als mein Handy sich verbunden hatte, wählte ich die Nummer meiner Mutter.
„Wince, was eine Freude", begrüßte sie mich.
„Hey Mum. Ähm, ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir in dreieinhalb Stunden da sind", sagte ich. „Also, wenn kein Stau dazwischen kommt."
„Das klingt gut. Sag mal, kannst du Shay dann einsammeln? Ich hab sie heute morgen gebracht."
„Klar, mach ich."
„Aber nicht vergessen", ermahnte sie mich.
„Mum. Ich hol Shay ab, keine Sorge."
„Okay, dann bis später."
„Bis dann."
Ich erzählte Anna unterwegs von meiner Mutter und Shayenne, dem Dorf, vom Ostseestrand und dem Meer. Eventuell geriet ich dabei ein wenig ins Schwärmen, aber ich liebte meine Heimat einfach.
Als ich auf den Parkplatz vom Klinikum fuhr, kam wieder das altbekannte Gefühl hoch. Hier war ich wirklich nur noch Wincent.
„Bereit?", fragte ich Anna.
„Ehrlich? Ich glaube, nein."
„Ach Schatz. Es sind nur meine Mum und meine Schwester."
„Ja, eben."
„Schatz, die sind wirklich cool. Also, Shay ist manchmal anstrengend, aber das haben kleine Schwestern an sich, glaub ich."
„Gut möglich."
„Willst du mitkommen oder kurz hier warten?", wollte ich wissen.
„Ich warte kurz."
„Okay, ich hol kurz Shay." Ich gab Anna einen Kuss und stieg dann aus.
Langsam ging ich auf den Haupteingang zu und sah mich kurz um. Eigentlich müsste meine Schwester jederzeit auftauchen. Kurz dachte ich nach, wie ich sie heute überraschen könnte. Normal zu warten war ja echt langweilig und Shay kannte mich. Als ein Arzt in den OP gerufen wurde, hatte ich die perfekte Idee. Es brauchte ein wenig Überredungskunst, aber dann hatte ich es geschafft.
„Schwester Shayenne bitte zum Counter am Haupteingang. Schwester Shayenne bitte", ertönte es und ich rieb mir grinsend die Hände.
„Alter! Du bist so peinlich, Winnie", ertönte fünf Minuten später ihre Stimme.

Annalena

Während ich mit Fritz auf Wincents Rückkehr wartete, hörte ich kurz die Nachricht meines Vaters ab. Morgen wollten wir ja in den Kletterwald und er fragte, ob Steffi spontan mitkommen könnte. Ich antwortete ihm, dass das ganz sicher kein Problem war. Immerhin gehörte Steffi ja quasi zur Familie. Abgesehen davon, dass Wincent ja etwas von Technik gesagt hatte und da war sie sicherlich besser drin als wir anderen. Gut, Wincent konnte sich schon selbst verkabeln, aber ob das auch für heute reichte, keine Ahnung.
„Shay, warte mal kurz", hörte ich Wincent sagen und packte das Handy wieder ein.
„Was denn?" Seine Schwester klang vom Tonfall her gerade wie mein Freund, genau die gleiche Ungeduld.
„Bleib bitte einfach ruhig."
„Ich bin ruhig, also nerv mich nicht."
Wincent seufzte und dann öffneten sich Autotüren. Fritz bellte, schwieg aber, sobald mein Freund ihn ansprach.
„Fritz, das ist Shay. Shay, das ist Fritz", stellte er die beiden einander vor.
„Hey du", sagte Shay.
Wincent ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
„Alles gut?", fragte er mich leise.
„Ja."
Er nahm meine Hand und ich drückte sie, um ihm zu signalisieren, dass wirklich alles okay war. Wobei ich innerlich doch nervös war. Ich kannte bisher gerade mal so Laras Familie, aber mit Wincent war das einfach ein anderes Level.
Auf der Fahrt quetschte uns Shayenne ein wenig aus. Während Wincent immer wieder seufzte oder versuchte, seine Schwester zu bremsen, fand ich es gar nicht so schlimm. Sie schien sich wirklich für mich zu interessieren und das nicht nur, weil ich die Freundin von ihrem Bruder war. Dieses Gefühl kannte ich so richtig erst, seit ich Wincent kannte. Sein Team hatte mich so nett aufgenommen und zum ersten Mal fühlte ich mich normal. Niemand nahm extra auf mich Rücksicht und das war so schön.
„So, wir sind da", verkündete Wincent.
„Kommt." Shayenne klang ziemlich euphorisch und ich hörte eine Autotür sich öffnen.
„Sagte ich nicht, dass kleine Schwestern anstrengend sind?", fragte mich Wincent.
Ich lachte kurz auf. „Lass sie."
„Hoffentlich ist meine Mutter nicht auch so drauf."
„Wieso?"
„Weil..." Er brach ab. „Na ja, es ist lange her, dass außer Amelie eine Frau mit hier war."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Irgendwie wusste ich das schon, aber das von ihm so deutlich zu hören war nochmal anders.
„Aber ab heute wird nur noch eine Frau mit hierher kommen", sagte er und nahm meine Hand.
Mir fehlten noch immer die Worte, aber ich hatte ein sehr gutes Gefühl im Bauch.
„Versprochen", brachte ich schließlich doch heraus.
„Komm, gehen wir rein."
„Ja."
Wir stiegen aus und Wincent holte unsere Sachen. Fritz sprang freudig an mir hoch und ich griff nach seiner Leine. Wincents Mutter musste er ja nicht gleich so überfallen.
„Dann willkommen bei mir Zuhause", sagte Wincent. „Geh durch."
Ich trat ins Haus und der Duft, der mir entgegenkam, war himmlisch.
„Hast du deiner Mutter verraten, dass ich Kartoffelauflauf liebe?", fragte ich Wincent.
„Vielleicht." Ich hörte sein Grinsen.
„Du bist unglaublich."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt