25

188 17 12
                                    

Wincent

Fuck! So sollte Anna das nicht erfahren. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Kurz sah ich im Augenwinkel zur Elbe. Ob es auffiel, wenn ich dort mal ganz kurz drin verschwand? In die Elbe springen war doch ein toller Plan. Genau richtig für einen Adrenalin-Junkie wie mich. Um am besten nie wieder auftauchen.
Scheiße, warum hatte ich Anna nie von alleine die Wahrheit gesagt?
„Also, dass ich dich so schnell wiedersehe, hätte ich ja nicht gedacht. Hast du bei deinem Auftritt mir den Kids Blut geleckt?", fragte Steffi mich.
„Ähm, nicht so ganz", antwortete ich unsicher. „Wobei es echt Spaß gemacht hat, auf der Bühne zu stehen."
„Du warst hier? Wann?", fragte nun Anna.
„Ähm, bei der Gala", antwortete ich.
„Echt? Da war ich auch hier." Sie lachte. „Dass wir uns in Berlin getroffen haben, war ja dann wohl richtiger Zufall."
„Wieso?", hakte ich verwirrt nach.
„Naja, so oft wie wir am gleichen Ort waren, ohne uns zu begegnen..." Sie grinste.
„Moment mal." Ich war komplett verwirrt. Hatte Mats die ganze Zeit schon Recht? „Wo haben wir uns nicht gesehen?"
„Lass mich mal überlegen. Dein Konzert in Berlin, München, Frankfurt..."
„Du warst immer da?", unterbrach ich sie verblüfft. „Ich hab dich nie gefunden."
„Du hast mich gesucht?" Jetzt war Anna überrascht.
„Oh je, ich lass euch mal kurz alleine. Aber nur, solange du nicht in irgendwelche Lüftungsschächte kletterst", mischte sich Steffi ins Gespräch ein.
„Du bist in Lüftungsschächte geklettert?" Ich kommte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Komm, wir reden drin", meinte Anna und ich nickte.
Wir gingen hinein und Steffi führte uns in einen großen Raum. Hier standen einige bequeme Stühle und ein Tisch. Offenbar war es eine Art Aufenthaltsraum für Mitarbeiter. Aber wir waren alleine hier. Vermutlich hatten alle Anderen zu tun. Heute Abend war ja Aufführung.
„Anna, ich hol euch kurz vor der Show ab, okay? Du kennst dich ja aus", sagte Steffi.
„Okay. Dürfen wir zum Soundcheck nachher mit in den Saal?", wollte Anna wissen.
„Natürlich. In einer Stunde fangen wir an. Ihr könnt euch hinter mein Pult setzen, von der Reihe aus bekommt ihr am meisten mit."
„Danke."
Steffi ließ uns alleine und wir machten es uns auf den Stühlen bequem. Fritz legte sich einfach zwischen unsere Füße.
„Wie kommt man denn auf Lüftungsschächte?", kam ich direkt auf das Thema zurück, was wir draußen zuletzt hatten. Es interessierte mich wirklich, denn Anna kam mir eigentlich nicht so vor wie jemand, der viel Action braucht.
„Ich war nicht gerade einfach als Kind", grinste Anna. „Du musst dir vorstellen, dass das hier ein wunderbarer Kinderspielplatz ist. Also, wenn man Steffi fragte, dann nicht, aber ich hab es geliebt. Naja, und wenn man nicht sieht, wo man reinkrabbelt, dann kommen auch mal solche Sachen bei raus."
„Und Steffi musste dich immer suchen?"
„Ja. Sie hat es manchmal echt bereut, glaub ich."
„Quatsch", widersprach ich. „So wie sie dich ansieht, bist du ihr sehr wichtig. Ich glaube nicht, dass sie irgendwas bereut. So schlimm war es also gar nicht."
„Du könntest Recht haben. Warst du schlimmer?"
„Naja... Ich war ein kleiner Adrenalin-Junkie", gab ich zu.
„Bist du das nicht immer noch?"
„Okay, das stimmt." Ich musste grinsen. „Aber du scheinst auch gerne Abenteuer zu erleben."
„Damals war es so."
„Heute nicht mehr?"
„Naja, was soll ich schon groß erleben? Das aufregenste war bisher alleine auf mein allererstes Konzert zu gehen. Und dann auch noch, ohne den Künster zu kennen." Sie grinste mich an.
„Achso? Na, ich wüsste durchaus aufregendere Sachen als ein Konzert."
„Ja?"
„Definitiv. Ich lass mir mal etwas einfallen."
„Okay. Aber du hast meine Frage vorhin gar nicht beantwortet. Du hast mich gesucht?"
Zum Glück sah sie nicht, wie unangenehm mir diese Frage war.
„Ja", gab ich schließlich zu. „Seit Mats mir von eurem Treffen in Berlin erzählt hat, hab ich versucht, dich zu finden. Er hat nach der Show nämlich immer erzählt, wenn du da warst. Nur gesehen habe ich dich irgendwie nie."
„Wir sind zwei Helden ey", fing Anna plötzlich an zu lachen.
Ich musste ihr zustimmen. Das war einfach nur verrückt. Da waren wir so oft aneinander vorbeigelaufen und trafen uns dann doch, dank Fritz, im Supermarkt. Was für eine Story. Das konnten wir doch niemandem erzählen.
„Warte mal, ich muss Mats kurz updaten", sagte ich irgendwann. „Er meinte übrigens, ich soll dir schöne Grüße ausrichten."
„Er wusste das?", fragte Anna.
„Er hat es vermutet, sagen wir mal so."
„Und du hast ihm nicht geglaubt."
„Ich war mir nicht sicher. Aber ich dachte ja auch, dass du nicht weißt, wer ich bin."
„Meine beste Freundin ist ein riesen Fan", erklärte Anna mir. „Es war für mich unausweichlich, es vorher herauszufinden. Aber es war mir nicht so wichtig."
Dieser letzte Satz ließ mein Herz prompt schneller schlagen. Womit hatte ich verdient, diese Frau kennenzulernen?
Die Zeit bis zum Soundcheck verbrachten wir einfach mit Quatschen. Es war wie bei den beirden Essentreffen auch. Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals so entspannt mit einer Frau Stunden verbringen konnte. Anna faszinierte mich und das nicht, weil sie blind war. Ihre Art, ihr Wesen und alles war einfach umwerfend. Mein Puls beruhigte sich schon gar nicht mehr.

Annalena

Der ganze Nachmittag und Abend mit Wincent fühlte sich an wie ein Traum. Während der Show saßen wir oben in einer Loge, die wir fast für uns alleine hatten. Immer wieder streiften sich unsere Hände oder Arme und jedes Mal fühlte es sich an, als würde Strom durch meine Adern fließen. Irgendwann fanden sich unsere Hände dann wie automatisch und ich wollte ihn nie wieder loslassen. Kein anderer Mann hatte mir vorher die Ruhe und Anerkennung gegeben, wie Wincent es tat. Gut, meinen Vater mal ausgenommen. Der zählte hier nicht. Bisher hatte ich mit fremden Männern keine so guten Erfahrungen gemacht, aber Wincent ließ mich fast glauben, dass es noch gute Menschen gab. Und dass ich absolut normal, richtig und liebenswert war.
Als das Musical zu Ende war, quatschten wir noch kurz mit Steffi, bevor sie aufräumen musste. Wincent fuhr mich und Fritz zur Wohnung meines Vaters und begleitete uns nach oben. Irgendwie wollte ich nicht, dass der Abend endete, aber ich brachte es nicht über mich, Wincent das zu sagen. Da war ich dann doch wieder zu unsicher.
Wincent umarmte mich zum Abschied und ich genoss es sehr, seine starken Arme um meinen Körper zu spüren. Wir hatten uns auf der Rückfahrt darauf geeinigt, dass er mich morgen früh wieder zum Krankenhaus fuhr, bevor er zum Dreh musste. Abholen würde uns Steffi dann in ihrer Pause, hatte sie mir versprochen. Dennoch fiel mir der Abschied von Wincent ziemlich schwer, auch wenn ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen.
Ich schloss die Wohnungstür hinter ihm, nachdem wir uns noch gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten, und ging ins Schlafzimmer. Fritz tapste mir hinterher, winselte aber vor sich hin. Offenbar war er mit der Situation genauso unzufrieden wie ich. Verdammt ey! Wieso konnte ich ihn nicht einfach fragen? Warum hatte ich so viel Angst vor dem Unbekannten?
Einige Tränen rannen meine Wangen hinunter. Ich legte mich ins Bett, aber Fritz hörte einfach nicht auf zu winseln. So etwas hatte ich noch nie. Verzweifelt setzte ich mich wieder aufrecht hin, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und dachte nach. Ich wusste, ich würde heute nicht mehr alleine klar kommen. Und nur eine Person konnte mir jetzt helfen.
Mit zitternden Händen tastete ich nach meinem Handy.

Bin ich für sie blind? Donde viven las historias. Descúbrelo ahora