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Wincent

Der Abend mit Anna war für mein Gefühl viel zu schnell vorbei gewesen. Obwohl ich vom Musical nicht wirklich viel mitbekommen hatte, spätestens nachdem Annas und meine Hand sich gefunden hatten, nicht mehr, war er wunderschön. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen Arbeitstag so ausklingen lassen zu haben. Und irgendwie war ich auch erleichtert, dass Anna jetzt Bescheid wusste. Gut, sie wusste es vorher schon, aber nun hatten wir nochmal darüber gesprochen.
Da ich nicht direkt wieder alleine ins Hotel wollte, lief ich einfach noch ein wenig durch die nächtlichen Straßen. Annas Vater wohnte in einer schönen Gegend. Ziellos ging ich einfach drauf los und versuchte, nicht an Anna zu denken. Es funktionierte nicht. Ich vermisste ihre Berührung, ihren Duft, ihr Lächeln und Lachen. Ob sie wohl schon schlief? Oder war sie auch noch wach? Hatte sie den Abend genauso sehr genossen, wie ich?
Als ich an dem Supermarkt vorbeikam, indem Anna und ich vorhin einkaufen waren, kamen sofort alle Erinnerungen daran zurück. Ich blieb automatisch davor stehen. Es hatte so Spaß gemacht, mit ihr etwas Alltägliches zu machen. Ich wollte das immer wieder mit ihr tun.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Wer wollte denn um diese Zeit etwas von mir? Mats? Amelie?
Mein Herz setzte einen Moment aus, als Annas Name auf dem Display auftauchte.
Was war passiert?
Ich atmete kurz durch und nahm dann den Anruf entgegen.
„Anna?", fragte ich direkt.
„Wincent?"
„Ja?"
„Ich weiß nicht, was ich machen soll", kam es verzweifelt von der anderen Seite der Leitung.
„Was ist los?", hakte ich nach und konnte nicht verhindern, dass ich mir direkt Sorgen machte.
„Fritz... Er winselt die ganze Zeit. Das hat er nie gemacht. Und ich..." Sie brach ab.
„Pass auf, ich bin noch in der Nähe. Ich bin in fünf bis sieben Minuten bei dir, okay?"
„Okay." Sie klang etwas erleichterter.
„Anna?"
„Ja?"
„Mach dir keine Sorgen, okay? Alles wird gut."
„Ich versuch's."
„Dann bis gleich."
„Bis gleich." Sie legte auf, ich steckte mein Handy ein und lief direkt los.
Mein Fuß machte zwar noch immer nicht so ganz mit, aber das ignorierte ich.

Annalena

Seit der Anruf mit Wincent zu Ende war, hatte ich mich keinen Millimeter bewegt. Fritz war inzwischen zu mir aufs Bett gesprungen, was ich ihm normalerweise verbat. Doch jetzt war es mir egal. Ich streichelte über seinen Kopf und noch immer kam ein leises Winseln. In meinem Kopf nahm der Gedanke, dass er Wincent vermisste, nachdem sie den ganzen Tag zusammen verbracht hatten, immer mehr Gestalt an. Und ehrlich gesagt, ging es mir nicht anders.
Seit dem Kaffeetrinken mit Wincent bei unserem Kennenlernen bewegte ich mich schon auf unsicherem Terrain. Ich hatte keinerlei Erfahrung, wusste nicht, was normal war und was nicht. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich so viel Zeit mit ihm verbringen wollte, wie es irgendwie ging.
„Ach Fritz, was machen wir eigentlich?", fragte ich ihn und konnte nicht verhindern, dass mir wieder Tränen über die Wangen liefen. „Aber es ist zu spät, oder? Wir haben beide unser Herz verloren. Dabei wusste ich nicht einmal, dass so etwas geht."
Ich legte mich neben Fritz, kuschelte mich an ihn, streichelte über sein Fell und schloss die Augen.
Das Klingeln an der Wohnungstür riss mich aus meiner Trance. Ich wischte mir mit den Händen übers Gesicht und stand auf.
Fritz bellte leise und folgte mir zur Tür.
„Ja, das ist bestimmt Wincent", sagte ich und nahm den Hörer von der Gegensprechanlage in die Hand.
„Anna?", kam es fragend von der anderen Seite.
„Wincent?"
„Ja."
„Komm hoch." Ich hängte den Hörer wieder ein und öffnete die Haustür.
Die Wohnungstür lehnte ich nur an und ging ins Wohnzimmer. Ich konnte einfach nicht mehr stehen. Fritz blieb im Flur, zumindest hörte ich seine Pfoten nicht übers Parkett tapsen.
Allerdings begann er kurze Zeit später zu bellen und im nächsten Moment hörte ich eine Tür ins Schloss fallen.
„Hey, mein kleiner Freund." Das war Wincents Stimme. „Hast du mich vermisst? Du sollst doch deinem Frauchen nicht so einen Schreck einjagen. Wir sehen uns doch morgen wieder."
Dann kamen Schritte näher. „Anna?", fragte Wincent.
„Wohnzimmer", antwortete ich.        
„Hey, was ist denn mit dir?", fragte er sanft und setzte sich neben mich. Er griff nach meiner Hand.
„Alles gut", behauptete ich, denn immerhin wusste ich selbst nicht, was mit mir los war.
Wincent strich mit seiner Hand vorsichtig die Reste meiner Tränen weg und zog mich dann einfach in seine Arme. Ich kuschelte mich an ihn und ließ mich einfach festhalten. Es war so ein gutes Gefühl zu wissen, dass da jemand war. Ich rechnete Wincent hoch an, dass er nicht weiter nachfragte, sondern mich einfach nur in den Arm nahm.
„Du solltest langsam mal schlafen", flüsterte Wincent irgendwann.
„Mhm", murmelte ich nur. Ich wollte nicht aufstehen.
„Komm, Maus." Wincent hob mich hoch und wartete, bis ich halbwegs sicher stand. Dann nahm er meine Hand.
„Ich bin gleich wieder da", murmelte ich und tapste ins Bad.
Dort zog ich mich um und machte mich soweit bettfertig. Ich war komplett müde und mental sowieso am Ende, weswegen ich länger brauchte als sonst.
Als ich endlich soweit war, tapste ich ins Schlafzimmer, wo ich beinahe über Fritz fiel. Wieso lag der denn direkt hinter der Türschwelle?                  
Wincent fing mich auf und ich wusste nicht so Recht, wie ich mit der neuen Situation umgehen sollte. Ja, ich wollte ihn hier haben, aber andererseits war ich komplett überfordert.
„Sorry, ich hätte dich vorwarnen sollen", sagte Wincent. „Fritz spielt gerade Wachhund."
„Der hat eine Macke", murmelte ich.
Wincent lachte leise. „Mag sein. Aber wer hat die nicht?"
Ich musste lächeln, denn Wincent hatte Recht.
„So, ab ins Bett mit dir." Er nahm meine Hand und führte mich dorthin.
Ich kuschelte mich direkt unter die Bettdecke. Wincent korrigierte nochmal die Bettdecke.
„Gute Nacht. Schlaf gut", sagte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Gute Nacht", murmelte ich und dann fielen mir auch schon die Augen zu. Das war vielleicht ein Tag.
Allerdings hielt der Schlaf nicht lange, denn einige Zeit später schreckte ich wieder hoch. Panik beschlich mich und mein Shirt klebte an meinem Oberkörper.
„Hey", sagte plötzlich eine mir durchaus bekannte Stimme neben mir. „Alles gut?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now