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Wincent

Ich tastete mich also in die Küche vor. Natürlich nicht, ohne gegen den Türrahmen zu laufen. Das war so klar.
Ich unterdrückte ein Fluchen und ging weiter. So tollpatschig wie ich war, tat der Fuß nur ganz kurz weh. Blaue Flecken gehörten bei mir einfach irgendwie dazu.
An den Schrank mit Gläsern, Tassen und Bechern musste ich extrem häufig, da ich meine Sachen meistens irgendwo abstellte und dann nicht wiederfand, wenn ich sie brauchte. Deshalb wusste ich auch genau, wo ich hin musste. Ich öffnete den Schrank und versuchte mich zu erinnern, wo ich was stehen hatte. Vorsichtig tastete ich im unteren Fach ganz nach links und tatsächlich stießen meine Finger gegen Plastik. Zufrieden lächelnd nahm ich den Becher heraus und schloss den Schrank wieder. Jetzt kam der schwierige Teil. Wasserhähne und ich waren selten gute Freunde und blind war das nochmal eine ganz andere Herausforderung. Gut, noch einfacher als den Inhalt einer Flasche in den Becher zu kippen. Das würde vermutlich eine große Sauerei geben.
„Na?", fragte Anna hinter mir, als ich gerade den Wasserhahn geöffnet hatte.
Ich erschrak mich und machte den Hahn noch weiter auf, sodass ich einmal duschte.
„Verdammt", murmelte ich und stellte schnell das Wasser wieder ab.
„Alles gut?", wollte Anna wissen.
„Ja. War nur Wasser", antwortete ich.
„Dann ist ja gut."
„Respekt ey. Wie schaffst du das, dich in fremden Wohnungen zurechtzufinden?"
„Keine Ahnung."
„Gibt es keinen Trick? Ich meine, ich verzweifle schon halb an meinen eigenen vier Wänden."
„Ich hab nie drüber nachgedacht. Bei mir ist das meistens ganz automatisch."
Das half mir jetzt nicht wirklich weiter, aber auch okay. Sie konnte ja nichts dafür.
„Du lernst das einfach mit der Zeit", versuchte Anna mich zu beruhigen.
„Das bezweifle ich noch etwas", gab ich zu. „Ich merk mir ja nicht einmal meine eigenen Texte."
Anna lachte und ich fand es vollkommen okay. Immerhin war das in der Crew schon ein Insider geworden.
„Ich glaube fest daran, dass du das schaffst."
„Danke."
„Soll ich dich mal lieber alleine lassen?"
„Du meinst, damit ich nicht mehr abgelenkt bin?"
„Bist du es denn?"
„Vielleicht."
„Dann lenk ich dich mal nicht weiter ab", grinste Anna.
Erstaunlich, dass man sogar die Mimik hören konnte. Diese Erkenntnis überraschte mich einen kurzen Moment.
„Mehr als nochmal duschen kann nicht passieren", erwiderte ich.
„Ich empfehle dafür allerdings Seife und eine richtige Dusche."
„Danke für den Hinweis." Es fiel mir schwer, mein Grinsen zu unterdrücken.
Anna verließ die Küche und ich schaffte es, meinen Becher mit Wasser zu füllen, ohne nochmal zu duschen. Ich trank einige Schlucke und ging dann ins Wohnzimmer. Allerdings hielt ich mich immer rechts, damit mein Fuß nicht noch einmal mit dem Schrank Bekanntschaft machen musste.
Dann stellte ich den Becher vorsichtig auf dem Couchtisch ab. Ich wusste gar nicht, dass er so niedrig ist.

Annalena

Ich war ein wenig überrascht, dass Wincent diese ganze Sache mit ‚einen Tag blind' wirklich durchziehen wollte. Und es war so unglaublich süß, dass mein Herz automatisch schneller zu klopfen begann. Der Mann war absolut verrückt.
Ich hätte das niemals von ihm verlangt. Als ich das nach dem Abendessen im Dunkeln gesagt habe, hab ich nicht damit gerechnet, dass das am Ende rauskommt.
„So, Aufgabe erledigt", sagte Wincent und klang ein kleines bisschen erleichtert, als er sich neben mich auf die Couch setzte.
„Und? Nächste Aufgabe?", fragte ich.
„Erstmal kuscheln", murmelte er und zog mich an sich.
Dagegen hatte ich natürlich nichts. Auch wenn ich kurz zusammen zuckte, weil er kein Shirt mehr an hatte.
„Alles gut?", wollte Wincent wissen.
„Ja. Alles super."
„Das ist gut." Er zog mich noch ein Stück näher und ich kuschelte mich an ihn.
So lagen wir eine ganze Weile einfach nur auf dem Sofa. Es war so ein gutes Gefühl, in seinem Arm zu liegen.
„Hey, was wird das?", protestierte er.
„Ich muss mal auf die Toilette", antwortete ich und er gab mich frei.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, hörte ich Wincent reden. Wahrscheinlich telefonierte er.
„Welche Mail?... Wann hast du die denn geschickt?... Nein, hab ich noch nicht gelesen..." Es gab eine kurze Pause. „Anna!", rief er mich dann. „Gibt es bei Mails eine Funktion fürs Vorlesen?"
„Ähm..."
„Nicht du! Warte mal kurz."
Maus?"
„Ja?"
„Gibt es so etwas?"
„Ich hab das, ja. Aber ich glaub, das musst du einstellen. Keine Ahnung."
„Danke."
Damit war das Gespräch zwischen uns wohl vorerst beendet.
„So, jetzt bin ich wieder da. Ähm, das mit der Mail... Ist heute schwierig. Kann ich dir morgen eine Antwort schicken?... Ne, kann ich nicht... Ich seh nämlich nichts... Erzähl ich dir mal in Ruhe, okay?... Bis morgen, Anna."
„Alles in Ordnung?", fragte ich ihn.
„Ja. Das war meine Managerin. Sie hat mir eine Mail geschickt, die ich beantworten soll. Aber nicht mehr heute", antwortete er.
„Aber... Wince, das ist dein Job."
„Und ich hab heute frei. Abgesprochen mit Mats, falls du dich erinnerst. Die Mail kann ich auch morgen noch beantworten. Und dann werde ich die Gelegenheit nutzen und mein Handy mit Mats Hilfe mal blindengerecht machen."
„Du... musst das nicht tun", setzte ich an.
„Ich will das aber so. Glaub mir."
„Okay", gab ich nach.
Irgendwie war es total lieb von ihm, dass er das tat. Ich würde ihn niemals dazu zwingen. Er kann sehen und das ist auch okay. Doch es gibt mir ein extrem gutes Gefühl, wenn er ausprobieren und lernen will, wie ich lebe. So hab ich mir mein zukünftiges Leben auf gar keinen Fall vorgestellt. Das hier ist so viel besser.
„So, hast du noch eine Aufgabe für mich?", fragte Wincent plötzlich wieder ganz motiviert.
Wo nahm denn der die ganze Energie her?
Fritz bellte aufgeregt und da bekam ich eine Idee.
„Wie gut kennst du dich in der Gegend hier aus?", wollte ich wissen.
„Ganz gut."
„Wie wäre es mit einem Spaziergang mit Fritz?"
„Klar."
Fritz bellte wieder und lachend entfernten sich Wincents Schritte und die Pfoten meines Hundes.
„Kommst du?", rief Wincent aus dem Flur.
Ich folgte meinen beiden Männern und zog meine Schuhe an. Wincent klapperte schon mit der Leine, was Fritz dazu brachte, unruhig mit dem Schwanz über den Boden zu schlagen.
„Bist du soweit?", fragte Wincent und mir ging kurz die Frage durch den Kopf, wer ungeduldiger war. Wincent oder Fritz?
Ich zog meine Jacke noch fertig an. „Wir können los", erlöste ich die beiden Männer.
„Fritz, auf geht's."
„Sag mal, hast du eigentlich Schuhe und Jacke an?", wollte ich von meinem Freund wissen.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now