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Annalena

„Nächste Station: Hamburg Hauptbahnhof."
Diese Ansage ließ mich erleichtert ausatmen. Zug fahren war nicht gerade so meine Lieblingsbeschäftigung. Ich tat das hier auch nur für meinen Vater. Niemand sonst würde mich dazu bekommen, über längere Strecke im Zug zu sitzen. Aber ich hatte nun einmal nur noch meinen Vater, denn meine Mutter war kurz nach meiner Geburt abgehauen. Ein blindes Kind ertrug sie nicht. Ich kam irgendwie damit klar, dass es immer nur meinen Vater und mich gab. Meine Oma war als einzige Frau immer für mich da, aber das war okay. Also irgendwie.
„Eingehender Anruf von Papa", vermeldete mein Handy.
„Ja? Papa?", fragte ich.
„Hey Maus. Bist du schon am Bahnhof?"
„Gleich, ja. Wo bist du?"
„Noch im Krankenhaus. Aber du, ich schick dir jemanden, der dich abholt, okay?"
„Wer?"
„Ein Kollege", antwortete mein Vater. „Der hat mich ins Krankenhaus begleitet."
„Ein Kollege?", hakte ich ungläubig nach. „Du weißt genau, dass das mit Fritz nicht geht."
„Oh, stimmt. Dann, wie wäre es..." Mein Vater dachte kurz nach. „Mit Steffi? Du weißt schon, die Braunhaarige aus der Tontechnik."
„Ja, das geht klar. An Steffi erinnere ich mich auch noch."
„Gut, dann schick ich sie zum Bahnhof. Soll ich ihr deine Nummer geben, damit ihr euch findet?"
„Wäre gut. Ansonsten erkennt man mich und Fritz ganz gut, glaube ich."
„Mach ich und ja, das stimmt. Dann bis gleich. Ich freu mich, dass wir uns mal endlich wiedersehen."
„Ich auch. Aber andere Umstände wären auch okay", erwiderte ich.
„Ich weiß, Maus."
Wir redeten noch, bis der Zug in den Bahnhof einfuhr. Fritz, der die ganze Zeit zu meinen Füßen gelegen hatte, sprang auf und bellte kurz. Er freute sich genauso wie ich darauf, endlich aus der Bahn zu kommen. Abgesehen davon, dass wir nun in meiner eigentlichen Heimatstadt waren. Ein klein wenig erinnerte ich mich noch daran, wie der Bahnhof aufgebaut war.
Ich kämpfte mich durch die Menschenmengen nach draußen. Fritz blieb ganz nah an meiner Seite und ich war wieder einmal mehr als dankbar, dass ich ihn hatte.
Als mein Handy klingelte, nahm ich den Anruf direkt an.
„Ja?"
„Anna? Hier ist Steffi."
„Hey."
„Wo bist du? Ich wäre dann da."
„Ich bin irgendwo draußen", antwortete ich. „Nur die Seite kann ich dir nicht sagen. Nicht weit weg von den Türen."
„Okay, ich such euch mal."
„Danke."
Ich blieb genau dort stehen und auch wenn immer mal Leute maulten, weil ich ihnen im Weg stand, rührte ich mich nicht vom Fleck. Sonst war ich komplett verloren. Obwohl ich hier aufgewachsen war, kannte ich mich hier nicht mehr gut aus. Sobald ich in der Musicalhalle von König der Löwen war, sah das vermutlich anders aus, aber auch nur, wenn sie nichts geändert hatten. Als Kind war ich dort regelmäßig herumgetobt und kannte deshalb ganz viele tolle Verstecke. Daher wusste ich auch, wer Steffi war. Meistens hatte sie nämlich Zeit und wenn man so will, war sie meine Babysitterin. Im Grunde musste sie mich schon immer suchen, spätestens wenn mein Vater Feierabend hatte und ich mal wieder irgendwo war. Leider konnte ich ihnen nie sagen, wo genau. Mein Funkgerät hatte nämlich keine Ortungsfunktion, was damals mindestens Steffi und mein Vater bemängelt hatten. Wenn ich so daran zurück dachte, war es eigentlich ganz lustig.
„Anna?"
Ich drehte mich um.
„Du bist es wirklich. Mensch, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Zwei Jahre?"
„Steffi?", riet ich, denn die Stimme erkannte ich wieder.
„So ist es. Mensch, was ist nur aus meinem kleinen Mädchen geworden?" Sie klang sichtlich erfreut.
Mich beruhigte es, eine vertraute Person bei mir zu haben. „Ich glaube, ich bin erwachsen geworden", antwortete ich.
„Und sehr hübsch. Wer ist denn deine Begleitung?"
„Das ist Fritz", stellte ich meinen Hund vor.
„Na, den hättest du damals auch gebraucht. Wobei, vielleicht wärt ihr zwei dann durch noch mehr Tunnel gekrabbelt." Sie lachte und ich musste auch grinsen.
Ich musste zugeben, dass ich nicht unbedingt das leichteste Kind war, auf dass man aufpassen musste. Wie sollte ich denn wissen, dass ich durch Lüftungsschächte krabbelte? Oder dass es unterwegs fünf Abzweigungen gab? Konnte ich ahnen, dass mein Spielplatz nicht für Erwachsene geeignet war?
„Keine Sorge. Ich schätze, dafür bin ich langsam zu alt", beruhigte ich Steffi.
„Zum Glück. Ich bin echt stolz auf dich, wie selbstständig du geworden bist. Ob du es glaubst oder nicht, dein Vater erstattet mir regelmäßig Bericht."
„Oh je", seufzte ich. „Hat er wieder vergessen, dass du nicht mehr mein Kindermädchen bist?"
„Ich glaube, er verdrängt es ab und zu mal." Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „So, wollen wir dann?"
„Gerne."
Steffi nahm meine freie Hand und führte mich. Nach fünf Minuten blieb sie stehen.
„So, einsteigen bitte."
Ich setzte meinen Rucksack ab und Steffi nahm ihn an sich. Dann tastete ich nach dem Autodach und kletterte hinein.
„Fritz kann auf die Rückbank", hörte ich Steffi sagen und ich reichte ihr die Leine.
Ich hörte einige Türen klappern und dann wurde der Motor gestartet. Während der Fahrt erzählte mir Steffi, was sie über den Unfall meines Vaters wusste. Viel war es nicht, da sie ja in der Tontechnik und mein Vater im Bereich Bühnenbild und Requisite arbeitete. Danach wollte sie dann etwas über mein Leben in Berlin wissen und ich erzählte ihr ein wenig von meinem Job und von Lara. Wincent verschwieg ich, obwohl ich Steffi gut kannte. Davon würde nicht einmal mein Vater erfahren. Das musste ich erst einmal für mich selbst herausfinden.         
Am Krankenhaus angekommen, musste Fritz im Auto bleiben. Das wusste ich und erklärte es ihm. Dann begleitete mich Steffi nach drinnen und fragte sich nach meinem Vater durch. Sie hielt die ganze Zeit meine Hand, damit ich nicht verloren ging. Ich war mehr als dankbar, denn so viele Geräusche wie hier waren, hätte ich mich alleine vermutlich maßlos verlaufen.
„So, Anna. Hier ist es. Ich lass euch mal alleine und leiste Fritz Gesellschaft, okay? Meld dich einfach, wenn ihr fertig seid, dann hol ich dich. Und lasst euch alle Zeit der Welt."
„Danke für alles, Steffi."
„Für euch immer gerne."
Manchmal wünschte ich mir, ich hätte so eine Mutter wie Steffi. Ob ich das meinem Vater erklären konnte? Wobei, vielleicht lieber nicht. Noch war es meine Chance, dass ich zwei Leute hatte, die ich unabhängig voneinander fragen konnte. Vielleicht war es doch gut so, wie es war.
Ich klopfte vorsichtig an die Tür und auf ein „Herein" öffnete ich sie langsam. Zögernd betrat ich den Raum.
„Anna, Maus", hörte ich meinen Vater sagen.
„Hey Papa. Wie geht es dir?"
„Ging schon mal besser. Pass auf, wenn du jetzt immer geradeaus läufst, kommst du auf das Bett zu. Ich sag dir Bescheid, dann kannst du dich zu dem Stuhl tasten, der hier steht", schlug mein Vater vor.
Er war einfach immer noch der beste. Sogar wenn es ihm schlecht ging, dachte er an mich. Ich folgte seinen Anweisungen und war ziemlich erleichtert, als ich neben ihm auf dem Stuhl saß.
Mein Vater nahm meine Hand. „Wie geht es dir denn?", wollte er wissen.

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now