68

175 15 8
                                    

Wincent

Ich war ausnahmsweise mal echt froh, dass ich blind war. So musste ich mir nicht anschauen, was für Chaos ich wieder fabriziert hatte. Ich war halt noch nie der ordentliche Typ. Anfangs brachte ich immer den Spruch 'Nur ein Genie beherrscht das Chaos', wenn Leute wieder meine mangelnde Ordnung kommentierten. Allerdings traf das bei mir ganz und gar nicht zu. Wenn ich eine Sache brauchte, suchte ich mich dumm und dusselig, bevor ich sie vielleicht irgendwann fand oder es aufgab.
„Dann werden wir wohl noch aufräumen", war also mein einziger Kommentar auf Mats Aussage.
„Das schafft ihr ja alleine, oder?"
Vergiss es, Mats!" So leicht kam er mir nicht davon, obwohl ich wusste, dass er uns niemals damit alleine lassen würde.
Aber zuerst aßen wir in Ruhe das leckere Essen und ich musste gestehen, dass kochen doch gar nicht so blöd war. Vielleicht sollte ich mal über einen Kurs nachdenken. Die Liste mit Dingen, die ich machen wollte, wurde auch nur immer länger.
Das gemeinsame Aufräumen ging tatsächlich recht schnell und anschließend luden wir Mats noch zu einer Runde Memorie ein. Und ich musste gestehen, dass ich es blind noch weniger konnte als sonst. Also ich verstand das Prinzip mit der Blindenschrift, aber hatte keinen Plan, welche Karte ich in der Hand hatte. Dennoch schaffte ich es, zwei Paare zu finden und darauf war ich ehrlicherweise ziemlich stolz.
„Wince, noch eine Runde?", fragte Mats und ich konnte nicht widerstehen.
Also nicht, weil ich so super gut in dem Spiel war, sondern weil es Anna extrem glücklich machte. Sie war nicht nur ziemlich gut, sondern wir konnten einmal etwas Normales tun, wo sie nicht im Nachteil war. Zum Abschluss des Abends gingen wir mit Fritz spazieren und brachten Mats zu seinem Hotel, bevor Anna, Fritz und ich in meine Wihnung zurückkehrten.
„Du hast Recht. Es wird wirklich einfacher", sagte ich zu Anna, als ich meine Schuhe auszog.
„Sag ich ja. Alles nur Übungssache."
„Ich habe den Tag übrigens sehr genossen. Dennoch werde ich mal wieder meine Augen befreien. Ich will nämlich duschen gehen und danach hab ich noch eine Überraschung."
„Noch eine Überraschung?"
„Ja."
„Ich kann dir gar nicht sagen, was mir das heute bedeutet hat und ich bin sehr stolz auf dich, dass du das so durchgezogen hast."
Ich zog Anna zu mir und küsste sie sanft. Ich wusste, wie viel ihr der heutige Tag bedeutete und es war definitiv nicht der letzte.
„Ich liebe dich", sagte ich.
„Ich liebe dich auch."
Mein Puls stieg automatisch, aber Fritz, der mich anstupste, zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Was denn?", fragte ich ihn und nahm die Augenbinde ab. Meine Augen brauchten einen kurzen Moment, um sich daran zu gewöhnen, nicht mehr nur schwarz zu sehen.
„Vermutlich hat er Hunger", kam es von Anna. „Ich kümmere mich darum."
„Okay. Ich bin schnell duschen." Damit ging ich nach oben und ging ins Badezimmer.
Zehn Minuten später war ich fertig und trug eine Jogginghose und ein schlichtes schwarzes Shirt.
„Maus, willst du baden gehen?", fragte ich Anna, die im Wohnzimmer auf der Couch lag und Fritz kraulte.
„Ich dachte, wir gehen schlafen. Immerhin musst du doch morgen wieder früh aufstehen."
„Mach dir keine Gedanken. Mats geht eh nicht davon aus, dass ich vor 10 Uhr ansprechbar bin. Also, wenn du magst, mach ich dir ein Bad."
„Danke, aber ich denke, ich geh einfach nur duschen heute", erwiderte Anna und stand auf.
„Okay. Fritz und ich kommen schon zurecht. Lass dir Zeit."
Anna ging ins Badezimmer und ich wollte mich schon zu Fritz auf die Couch legen, als mir etwas einfiel. Ich wollte doch Anna überraschen. Also durchsuchte ich die Schränke im Wohnzimmer nach Teelichtern. Ich wusste, dass irgendwo welche waren. Im Eckschrank ganz hinten, ganz unten, fand ich sie schließlich und lief schnell die Treppe nach oben. Fritz folgte mir neugierig. Ich verteilte die Kerzen auf dem Fensterbrett, auf dem Regal und den Nachttischen. Anschließend ging ich wieder nach unten und holte die sehr verstaubte Tasche hervor, die ich hinter der Couch entdeckt hatte. Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und legte sie neben meine Bettseite auf den Boden.
Kurz lauschte ich und es lief kein Wasser mehr. Also würde Anna jeden Moment kommen. Ich zündete alle Kerzen an, schickte Fritz in sein Körbchen und öffnete die Tasche. Ehrfürchtig fuhr ich mit der Hand über die Akustikgitarre, die zum Vorschein kam. Ich war nicht sonderlich gut im Spielen, aber für Anna wollte ich es versuchen.
„Ich bin..." Anna brach ab und blieb wie angewurzelt stehen. „Was...?"
„Ich hab doch gesagt, ich hab noch eine Überraschung", sagte ich und ging zu ihr.
„Wow. Ich liebe den Geruch von Kerzen. Woher wusstest du das?"
„Ich wusste das nicht", antwortete ich ehrlich. „Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es dir gefallen könnte."
„Absolut richtig." Anna strahlte förmlich.
„Komm, ich hab noch etwas mehr oder weniger vorbereitet."
„Was denn?", wollte meine Freundin neugierig wissen.
„Setz dich erst einmal." Ich führte Anna zum Bett und sie kuschelte sich ein wenig unter die Decke.
„Ich bin nicht sonderlich gut im Gitarre spielen, aber mir fiel ein Song ein, den ich schon eine ganze  Weile nicht mehr gesungen habe. Er ist auch bisher noch unreleased. Vor einigen Jahren haben wir ihn mal in der Setlist gehabt, aber das hatte sich dann irgendwie wieder geändert. Dabei war das echt schön."
Ich sah Anna kurz an, aber sie hörte mir aufmerksam zu.
„Auf jeden Fall will ich versuchen, dir den Song zu zeigen. Denn er passt perfekt auf dich."
„Ich bin sehr gespannt", antwortete Anna, aber so ganz sicher war sie  sich nicht.
„Bereit?"
Anna nickte und ich nahm die Gitarre zur Hand.
Probehalber legte ich die Finger für den ersten Akkord bereit und schlug die Seiten an.
„Sorry", murmelte ich und musste kurz grinsen. Ich war auch einfach wieder richtig intelligent. „Ich hab vergessen, die Gitarre zu stimmen", erklärte ich meiner Freundin.
Sie grinste und ich stellte mal wieder fest, wie schön Anna aussah, wenn sie glücklich und entspannt war.
Ich stimmte schnell die Gitarre und spielte dann die ersten Akkorde an. Erstaunlicherweise konnte ich sie noch, obwohl auf Tour immer Benni gespielt hatte, wofür ich sehr dankbar war. Doch heute war mein Gitarrist nicht da und so war es meine Aufgabe. Ich spielte die Abfolge der Akkorde zwei Mal durch und dann war ich mir sicher, wie der Song ging.
Ich ließ meinen Blick kurz durch den nur mit Kerzenlicht erleuchteten Raum schweifen und blieb dann an Anna hängen.
Vorsichtig begann ich zu singen. „Dein Lächeln und dein Schweigen, die Art und Weise, wie wir streiten. Ich würd's vermissen."
Anna hörte mir aufmerksam zu, wobei ich mir einbildete, etwas in ihren Augen glitzern zu sehen.
„Für deinen Stolz und deine Kraft, dein zweiter Versuch, wenn's mal nicht klappt. Oh, ich würd's vermissen."
Kein einziges Wort war gelogen und das, obwohl der Song schon einige Jahre älter war. Er passte einfach perfekt zu Anna.
„Ich sag's dir viel zu selten, wie schön das Leben mit dir ist. Ich sag's dir viel zu selten, ich funktionier' nicht ohne dich. Manchmal glaube ich, ja, ich trau' mich nicht, weil's auch 'n bisschen kitschig ist. Ich sag's dir viel zu selten, dass du mehr als alles für mich bist."

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now