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Annalena

„So, bist du bereit? Heute wird endlich wieder live gespielt." Wincent war schon den ganzen Morgen so euphorisch, obwohl er nach dem Konzert von Topic erst recht spät wieder zurück war.
„Du hattest doch nur... äh, wie viele Tage Offday?"
„Sechs", gab er zu.
„Na, siehst du."
„Aber sechs ist einfach zu viel."
„Also, ich mag Offdays", lächelte ich.
„Ich eigentlich auch. Aber... egal. Also, bist du bereit?"
„Müsste ich nicht eher dich fragen, ob du bereit bist?", lachte ich.
„Nein. Ich bin es immer. Aber für dich habe ich heute eine Überraschung."
„Noch eine?", fragte ich ungläubig. „Du hast nur noch Überraschungen."
„Die heute bekommst du aber nur einmal. Wobei es dir auch perspektivisch helfen wird", erwiderte Wincent geheimnisvoll.
„Hä?" Ich war absolut verwirrt.
„Lass dich überraschen, Schatz." Ihm machte das Ganze riesigen Spaß, das hörte ich deutlich.
„Du bist fies", erwiderte ich und tat, als wäre ich beleidigt. Natürlich durchschaute er mich direkt.
„Du wirst es lieben", versprach er.
Ich beließ es dabei, denn er würde eh nicht mit der Sprache rausrücken. Also musste ich mich wohl noch einige Stunden gedulden. Die Zeit verging aber schnell, denn Wincent hielt mich mit seinem überschüssigen Adrenalin ganz schön auf Trab. Die Frage nach der Uhrzeit wechselte sich mit der Suche nach irgendwelchen Sachen ab. Leider konnte ich nur Zeitansage spielen, aber so war ich wenigstens auf dem Bett in Sicherheit. Zumindest die meiste Zeit.
„Gute Nachrichten, Schatz. Es ist dreizehn Uhr", erlöste ich ihn irgendwann.
Keine Minute später hörte ich Wincent aus dem Bad kommen und musste schmunzeln. Er war schlimmer als ein Kleinkind an Weihnachten.
„Hast du alles?", fragte ich ihn.
„Ja. Alles im Rucksack. Und den hab ich auf", antwortete er.
„Gut. Dann können wir ja los."
„Endlich. Ich kann es kaum erwarten, wieder auf der Bühne zu stehen."
„Merkt man gar nicht", grinste ich.
Kaum hatte ich meine Schuhe an, schob mich Wincent aus dem Zimmer und führte mich die Treppen nach unten. Er checkte noch schnell aus, während ich Lara fragte, wie es Fritz ging.
„Bitte fahr vernünftig", ermahnte ich meinen Freund, als wir im Auto saßen.
„Mach ich immer", behauptete er und startete den Motor.
Ich konnte seine Aufregung ein wenig verstehen, denn mir ging es ähnlich. Wenn auch aus anderen Gründen. Immerhin lernte ich jetzt das ganze Team von Wincent kennen und außer Stefan und Mats wusste niemand, dass ich blind war. Wie ich von Lara wusste, war es wohl eine lockere und lustige Truppe, was man so als Fan mitbekam. Dennoch hatte ich ein wenig Respekt davor in eine größere Menge fremder Menschen zu kommen. Heute war außerdem mein erstes Konzert als Freundin von überhaupt irgendwem. Oder eben nicht irgendwem, sondern von Wincent. Ich wusste, dass er ein Popstar war, auch wenn er die Bezeichnung hasste. Er meinte zu mir, dass er seine Beziehungen generell privat hielt, aber ich war mir nicht sicher, ob nicht doch etwas durchsickerte. Man wusste ja nie und das machte mir ein wenig Angst.
„Hey, alles gut?", fragte Wincent mich.
„Ja. Hab nur nachgedacht."
„Worüber?"
Sollte ich...? Ne, dann würde er mir wieder sagen, dass er dafür sorgen würde, das niemand etwas erfuhr. Dennoch lag es nur bedingt in seiner Hand und er sollte sich nicht unnötig den Kopf zerbrechen.
„Darüber, dass ich das erste Mal Backstage sein werde. Und, dass ich nie damit gerechnet hätte mal die Freundin eines Musikers zu sein." Das war nicht gelogen.
„Ach Schatz, ich bin immer noch Wincent, okay? Egal, was da heute Abend passiert. Und um den Backstage-Bereich musst du dir keine Sorgen machen. Die sind alles ganz entspannt und ich habe sie vorgewarnt, dass wir Besuch haben", beruhigte er mich, auch wenn ich nicht wusste, wie viel er ihnen erzählt hatte. Irgendwie war mir sofort klar, dass meine Blindheit kein Problem war. Gut, Stefan und Mats wussten Bescheid und hatten es von Anfang an locker genommen. Ich hatte das Gefühl, dass Wincent sein Team ganz bewusst ausgewählt und zusammengestellt hatte. Meine Angst sank etwas und ich freute mich richtig darauf, endlich die Arbeitswelt meines Freundes richtig kennenzulernen. Irgendwie fühlte es sich noch immer etwas seltsam an, die Bezeichnung ‚Freund' zu verwenden, auch wenn es der Realität entsprach.
„So, da sind wir", verkündete Wincent zwei Stunden später und stellte den Motor ab. „Willkommen in Kassel. Bereit für die liebsten Chaoten der Welt?"
„Ich weiß nicht", gab ich zu.
„Keine Sorge, die sind alle wirklich cool. Am besten hältst du dich an meine beste Freundin Amelie."
„Okay."
Er stieg aus und half mir dann auch. Allerdings ließ er meine Hand danach nicht los, wofür ich mehr als dankbar war. Denn eins musste man sagen: Stimmung herrschte hier schon.
„Ey Tom! Da bist du ja!"
„Nico! Nicoooo! Wo steckt der denn wieder?"
„Mats?! Du auch schon hier?"
„Ey! Manni und Flo! Soundcheck ist erst in einer Stunde. Benehmt euch mal bitte bis dahin."
„Alter Benni! Pack die Wasserpistole ein. Manche Menschen müssen arbeiten."
„Wir brauchen noch die Kiste mit den XLR-Kabeln. Und die Pyro-Sachen sind auch noch im Transporter."
„Hat irgendwer die Kiste mit den Tourshirts gesehen? Die wird am Merchstand vermisst."
Ich umklammerte Wincents Hand etwas fester, denn ich hatte gar keine Orientierung mehr und die ganzen verschiedenen Stimmen beunruhigten mich.
„Alles ist gut", beruhigte Wincent mich. „Das legt sich gleich wieder. So ist das manchmal vor der Show."                  
„Da bist du ja", wandte sich eine weibliche Stimme an Wincent.
„Amelie, darf ich dir meine Freundin Anna vorstellen?", fragte Wincent.
„Hey", sagte ich leise.
„Hallo Anna. Schön, dich kennenzulernen." Amelie umarmte mich zur Begrüßung, was mich kurz überforderte. „Wince hat schon einiges von dir erzählt."
Ich wusste nicht so ganz, was ich sagen wollte. Seine beste Freundin schien ziemlich nett zu sein und das beruhigte mich etwas. Immerhin hatte er gesagt, dass ich mich am besten an sie halten soll.
„Anna! Schön, dich wiederzusehen." Die Stimme erkannte ich sofort. Das war Stefan.
„Hallo Stefan", antwortete ich und bekam auch von ihm eine Umarmung.
„Na, wie geht es dir?", fragte er mich.
„Ganz gut."
„Nervös?"
„Ein wenig", gab ich zu.
„Das wird schon. Immerhin hältst du es mit dem größten Chaoten aus dem Team aus. Da schaffst du auch den Rest."
„Ey!", protestierte Wincent neben mir und ich musste schmunzeln.
„So chaotisch bin ich gar nicht", widersprach er.
„Das stimmt", sagte ich. „Also ab und zu."
„Wie bitte? Ich bin schon deutlich ordentlicher als vorher."
„Ja, das mag sein."
„Sag ich doch."                  
„So ungern ich euch unterbreche, aber ich schätze, du musst mal deine Jungs zusammentrommeln", sagte Amelie. „Die machen sonst nur Blödsinn hier."
„Okay", seufzte Wincent. „Kann ich dich mit den beiden alleine lassen?"
„Ja, ich komme klar."
„Wenn nicht, ruf an. Bis später." Er gab mir noch einen Kuss und ließ mich dann in Amelies und Stefans Obhut zurück.
Kurz darauf stieß auch Mats zu uns und mit den dreien verging die Zeit wie im Flug. Beim Soundcheck saß ich neben der Bühne auf einer Kiste und Amelie stand daneben.
Kurz vor Konzertbeginn begleitete sie mich dann auf meinen Platz. Ich wollte gerne wieder ins Publikum und so führte Amelie mich an den FOH. Das kannte ich ja schon und dieses Mal wusste ich ja, was mich erwartete. Außerdem hatte ich Tom und Johannes im Backstage kennengelernt und sie wusste Bescheid. Anfangs war ich skeptisch, aber ganz schnell fiel meine Angst ab. Wincent hatte Recht. Die waren alle super cool und sehr entspannt.
„Also Anna. Gleich kommen die ganzen Fans", erklärte mir Amelie. „Johannes verkabelt dich jetzt noch ein bisschen, also nicht erschrecken."
„Verkabeln?", hakte ich verwirrt nach.
„Das erklärt dir Wincent gleich."
„Okay."
Ich blieb ganz still stehen und befolgte Johannes Anweisungen.
„Ich wünsche dir ganz viel Spaß und wir sehen uns nach dem Konzert", verabschiedete sich Amelie.
„Danke. Bis später."
„Anna? Hörst du mich?", vernahm ich auf einmal Wincents Stimme.
„Ja", antwortete ich, auch wenn mir das noch nicht ganz geheuer war. Immerhin stand er nicht neben mir.
„Nicht erschrecken. Du hast einen kleinen Kopfhörer im Ohr. Also im Moment noch auf beiden Seiten, aber du kannst beim Konzert eine Seite raus nehmen. Das ganze System funktioniert ähnlich wie das In-Ear-Monitoring von meiner Band und mir", erklärte mein Freund mir, wobei ich nur die Hälfte verstand.    
„Okay", erwiderte ich dennoch.
„Über diesen Kopfhörer wird Stefan während des Konzertes mit dir in Verbindung stehen. Du hast ein kleines Mikro am Shirt, also kannst du mit ihm reden, so wie wir jetzt. So ist immer nochmal jemand bei dir."
Ich wusste echt nicht, was ich dazu sagen sollte. Womit hatte ich das denn verdient?
„Eigentlich aber hat der Kopfhörer noch eine andere Funktion, aber das wirst du dann merken."
„Du bist verrückt", brachte ich gerade so heraus.
Ich hörte Wincent leise lachen. „Ich liebe dich."
„Ich liebe dich auch."
„So, ich muss los. Ich bin nämlich noch nicht verkabelt und das gibt gleich Stress." Er lachte. „Dann viel Spaß. Genieß das Konzert."
„Viel Spaß auf der Bühne", wünschte ich ihm.
Dann nahm ich einen Kopfhörer raus und hörte, wie die ersten Fans auf den Platz kamen. Niemand schien sich für mich zu interessieren und das war gut. Ich wüsste nämlich nicht, wie ich erklären sollte, dass ich schon hier war.
„Anna?"
Ich zuckte kurz zusammen, als ich Stefans Stimme hörte. Dann fiel mir jedoch wieder das Monitoring ein.
„Ja?"
„Okay. Das Konzert beginnt so in fünf Minuten. Alles in Ordnung bei dir?"
„Soweit ja."
„Das ist sehr gut. Ich bin übrigens direkt neben der Bühne. Wincent springt hier auch herum. Über die Bildschirme kann ich alles sehen, was hier so passiert."
„Okay."
„Gut. Also auf der Bühne ist das Banner von Myle, der Vorband spielt. Myle ist einen Kopf kleiner als Wincent. Du hast ihn vielleicht vorhin kurz im Backstage getroffen. Er hat seinen Schlagzeuger, einen Pianisten und einen Gitarristen mit dabei. Ach und seine Fotografin natürlich." Er machte eine kurze Pause. „So, jetzt versammeln sie sich, denn der Konzertbeginn rückt immer näher. Wenn die Fans gleich ausrasten, dann kommt die Band auf die Bühne. Achtung. Fünf, vier, drei, zwei, eins, jetzt."
Tatsächlich brach die Menge um mich herum in Jubel aus. Kurz danach begann die Musik.
„So, Myle kommt auf die Bühne in drei, zwei, eins."
Stefan hielt mich während des gesamten Konzerts über alles auf dem Laufenden, was ich nicht sehen konnte. Als Wincent dann auf der Bühne stand, machte er selbstverständlich weiter und zum ersten Mal musste ich nicht raten, was passierte. Eins zu eins bekam ich Auskunft darüber, welche Grimassen mein Freund machte, in welches Outfit er sich heute quälte, wie er mit seiner Band tanzte, welche Fails er sich wieder erlaubte, wann er ins Publikum ging und all solche Sachen.
Wincent war wirklich verrückt geworden. Er machte sich so viele Gedanken und das nur für mich. Wow.

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