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Wincent

Die Nacht war lang, denn ich konnte nicht schlafen. Mit nur zwei kurzen, aber alles andere als erholsamen Powernaps stand ich um sechs Uhr dann endgültig auf. Ich hatte mir in den vergangenen Stunden dem Kopf darüber zerbrochen, wie ich nach Berlin fahren konnte, ohne Termine zu verschieben oder abzusagen. Doch eine richtige Lösung gab es nicht, denn in wenigen Tagen ging die Sommertour weiter. Also musste ich weiterhin hoffen, dass ich mir umsonst Sorgen um Anna machte und es eine ganz einfache Erklärung für die ganze Situation gab.
Shay musste heute wieder arbeiten, genau wie meine Mutter. Daher beschloss ich, die beiden mit Frühstück zu überraschen. Über Rührei und Toast kam ich zwar kochtechnisch nicht hinaus, aber das war ganz bestimmt okay. Immerhin wussten sie, dass ich in der Küche ziemlich unbegabt war.
„Guten Morgen. Du bist ja schon wach", sagte meine Mutter, die gerade die Küche betrat.
„Ja. Hab nicht so gut geschlafen", sagte ich und nahm die Pfanne mit Ei vom Herd.
„Kaffee?", fragte sie und ich nickte.
„Weißt du, wann Shay aufsteht?"
„Da bin ich", verkündete meine kleine Schwester in genau diesem Moment. „Hast du Frühstück gemacht?"
„Ja." Ich drehte mich zu ihr um und sah das Strahlen in ihren Augen.
„Ist es fertig?"
Ich nickte und stellte dann die Pfanne mit Ei auf einen Untersetzer auf den Tisch. Toast und Belag hatte ich schon dort hingestellt. Meine kleine Schwester half mir, den Tisch zu decken und holte Teller und Besteck, während ich ihr einen Kaffee machte.
Mit meiner Familie zu frühstücken, ließ ganz kurz die Sorge um Anna in den Hintergrund rutschen. Als ich jedoch dann alleine war, wartete ich ungeduldig auf eine Meldung von Mats. Eigentlich müsste ich noch ein wenig arbeiten, aber ich konnte mich nicht so wirklich konzentrieren.
Endlich kam der erlösende Anruf von meinem Fotografen.
„Moin Mats."
„Moin. Also, ich war gerade nochmal da, aber aufgemacht hat sie nicht."
„Komisch."
„Finde ich so langsam auch. Hat sie sich nochmal bei dir gemeldet? Ist sie wieder erreichbar?", fragte Mats nach.
„Nein." Natürlich hatte ich nochmal versucht, sie anzurufen. Doch wieder nur die Mailbox.
„Okay, ich hab noch zwei Stunden. Mehr aber echt nicht. Ich schaue mal auf Arbeit und versuche sonst an den Ersatzschlüssel zu kommen. Immer noch sehr ungern."
„Ich fühl mich auch nicht gut damit", gab ich zu. „Doch haben wir eine andere Wahl? Du kennst doch Anna und ihre Geschichte."
„Deshalb mache ich es ja. Ich melde mich wieder, wenn ich mehr weiß. Versprochen."
„Danke, Mats. Für alles. Richte Lara schöne Grüße aus, okay?"
„Mach ich. Bis später, Wince."
„Bis dann."

Annalena

Heute ging es mir noch schlechter als gestern. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei war. So konnte es doch nicht weitergehen. Ich wollte das alles nicht mehr, vor allem weil ich es bisher noch nicht einmal geschafft hatte, mit Fritz raus zu gehen. Noch immer liefen die Kinderlieder und ich hatte nach dem zehnten Mal aufgehört zu zählen. Ich drückte Wincents Teddy ganz fest an meine Brust, der allerdings leider kaum noch nach ihm roch.
Ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und Fritz begann zu knurren. Bitte lass es nicht Lara sein, flehte ich innerlich.
Ihr konnte ich das alles hier am wenigsten erklären. Allerdings hatte außer ihr niemand einen Schlüssel. Ich zog mir die Decke noch ein wenig weiter über den Kopf und schloss die Augen. Ich wollte alleine sein und gleichzeitig sehnte ich mich so sehr nach Gesellschaft, dass es wehtat.
Ich hörte, wie Fritz nachschauen ging, wer gekommen war und da er nicht noch einmal knurrte oder bellte, musste es jemand Bekanntes sein. War es doch Lara? Was sagte ihr ihr dann?
Die Frage erübrigte sich, als ich die leise männliche Stimme hörte.
„Hey Fritz. Na, alles klar? Wo ist denn dein Frauchen, mhm?"
Nicht da.
Doch mein Hund war einfach zu gut erzogen und führte unseren Gast durch die Wohnung.
„Anna?", fragte die Stimme nun deutlich näher und ich atmete ein wenig erleichtert auf.
Es war nämlich nur Mats und nicht Lara. Zumindest hoffte ich, dass er nur den Schlüssel bekommen und Lara nicht mitgekommen war.
„Anna? Bist du hier?" So nah wie die Stimme war, stand er wohl inzwischen im Türrahmen.
Vermutlich sah ich aus wie ein Zombie, aber Mats klang ein wenig besorgt. Daher kroch ich langsam unter der Bettdecke hervor, hielt Wincents Teddy aber immer noch fest.
„Hey, da bist du ja. Darf ich mich zu dir setzen?" Er klang jetzt ganz ruhig und total sanft.
Ich nickte.
Ich hörte seine Schritte und dann senkte sich die Matratze ein wenig, als er sich auf die Bettkante setzte.
„Wie geht's dir?", wollte er wissen.
Gute Frage. Wie ging es mir? Also abgesehen von ziemlich beschissen.
Er rechnete offenbar auch nicht mit einer Antwort. Stattdessen begann er zu erzählen. „Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Lara hat mir den Schlüssel ausgeliehen und keine Sorge, sie weiß nicht, wieso ich hier bin. Hoffentlich verzeiht sie mir die kleine Notlüge."
„Bestimmt", sagte ich leise.
„Willst du mir erzählen, was los ist? Du weißt, ich kann schweigen. Auch Wincent gegenüber, auch wenn er mich dafür wahrscheinlich umbringen wird. Das Risiko gehe ich aber gerne ein, wenn es sein muss."
„Quasi ärztliche Schweigepflicht, ja?"
„Genau."
„Dr. Bohle", rutschte mir heraus und sofort bekam ich Tränen in den Augen.
Es kam mir so vor, als wäre diese kleine Alberei zwischen Wince und mir ewig her. Das wirkte alles so weit weg.
Mats lachte leise. „Dr. Bohle. Ihr persönlicher Psychologe. Verschwiegen und trotz kleinem Dachschaden absolut vertrauenswürdig."
Ich lächelte leicht, obwohl mir gar nicht danach war. Doch allein durch seine Anwesenheit fühlte ich mich ein kleines bisschen besser.
„Kannst du mir einen Gefallen tun, bevor wir reden?", fragte ich und diese Frage kostete mich sehr viel Überwindung.
„Was kann ich tun?"
„Fritz war noch nicht draußen und ich würde mich gerne ein wenig frisch machen. Meinst du, du schaffst eine kleine Runde mit ihm?"
„Klar. Das bekommen wir schon hin. Mach dich ganz in Ruhe fertig."
„Danke, Mats."
„Nicht dafür." Er stand auf. „Komm, Fritz!"

Bin ich für sie blind? Kde žijí příběhy. Začni objevovat