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Annalena

Die Vorstellung, jetzt meinem Vater zu begegnen, ertrug ich nicht. Vermutlich sah er mir auf dem ersten Blick an, dass ich geweint hatte. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wusste aber auch, dass er ganz sicher nicht schlafen ging, bevor ich Zuhause war.
„Anna, du hast keine Wahl. Dein Vater wartet ganz sicher und wie willst du ihm erklären, dass du nicht kommst?", sprach Wincent das aus, was gerade in meinem Kopf vorging.
„Keine Ahnung. Dann muss ich ihm doch von dir erzählen", sagte ich leise.
„Wieso wolltest du das bisher nicht?"
„Ich wollte mir erst ganz sicher sein. Immerhin habe ich das alles noch nie erlebt."
„Bist du dir denn sicher?"
„Ja." Ich drückte seine Hand. „Bist du denn bereit, meinen Vater kennenzulernen?"
Er zögerte kurz. „Ja. Ich denke schon."
„Bist du etwa nervös?"
„Ein bisschen vielleicht."
„Der beißt nicht", versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Das mag sein, aber du siehst gerade nicht sehr glücklich aus. Sorry, dass ich das so sagen muss. Ich empfinde das jetzt nicht gerade als guten ersten Eindruck."
„Ach, das klär ich schon mit ihm", sagte ich. „Er wird dich mögen. Spätestens, wenn er dich besser kennenlernt und ich ihm irgendwann alles erzählt habe."
„Wenn du das sagst."
„Außerdem hast du noch einen Pluspunkt."
„Welchen denn?"
„Fritz", antwortete ich. „Mein Hund ist absolut vernarrt in dich und dass das etwas zu bedeuten hat, habe ich dir ja schon einmal erzählt.
„Ich erinnere mich."
Wir gingen Hand in Hand nach oben und es fühlte sich mehr als gut an. Als würde es genau so sein müssen. Fritz lief ganz entspannt auf meiner anderen Seite und ich spürte immer mal seine Seite an meinem Bein.
Wincents Hoodie trug ich immer noch und so schnell würde er ihn auch nicht wiederbekommen. Das verriet ich ihm allerdings noch nicht.
Oben angekommen holte ich meinen Schlüssel heraus und gab ihn Wincent. Er würde die Tür schneller aufbekommen als ich, vor allem weil ich nervös war. Ich wusste nicht, wie mein Vater reagieren würde. Die Situation war super neu für mich und ich hätte nie gedacht, dass der Tag mal kommen würde.
Als ich das Klicken des Schlosses hörte, beschleunigte sich mein Puls.
„Anna?", hörte ich die Stimme meines Vaters.
„Ja. Bin wieder zurück." Dann wandte ich mich leise an Wincent. „Ich red kurz mit ihm, okay? Du kannst ja mit Fritz kuscheln, der freut sich."
„Okay", flüsterte er zurück.
Ich ließ meine Schuhe an und ging ins Wohnzimmer, wo ich meinen Vater vermutete.
„Du bist wieder da. War ja eine lange Runde", begrüßte er mich.
Ich setzte mich auf einen Sessel und zog die Schuhe aus.
„Sorry. Hab noch jemanden getroffen."
„Achja?"
„Ja. Er ist gerade beruflich in Hamburg. Wir haben ein bisschen geredet."
„Moment mal. Er?" Mein Vater klang ehrlich überrascht.
Ich nickte. „Er heißt Wincent. Ich hab ihn in Berlin zufällig getroffen."
„Und du magst ihn", stellte mein Vater fest.
„Ja", gab ich zu. „Willst du ihn kennenlernen?", fragte ich vorsichtig.
„Ist er hier?"
„Ja. Bei Fritz."
„Wie bitte?"
Ich musste lachen. „Die beiden sind ein Herz und eine Seele", erzählte ich ihm.
„Na los, hol ihn schon her", forderte mich mein Vater auf.
Ich wollte allerdings nicht aufstehen und so pfiff ich einfach nach Fritz. Das sollte funktionieren.
Tatsächlich hörte ich die Pfoten meines Hundes auf dem Parkett und leichte Schritte. Vermutlich lief Wincent auf Socken.
Als Fritz kurz zu mir kam, über meine Hand schleckte und dann wieder verschwand, ahnte ich, dass Wincent in der Zimmertür stand.
„Komm rein", forderte ich ihn auf und kurz darauf spürte ich seine Hand auf meiner Schulter.
„Setzt ihr euch mal aufs Sofa. Ich nehm den Sessel", meinte mein Vater und Wincent half mir hoch.
Neben ihm auf dem Sofa zu sitzen war wahrscheinlich wirklich besser. Automatisch suchte ich wieder nach seiner Hand. Fritz lief eine Weile an der Couch entlang und legte sich dann halb auf meine Füße. Vermutlich lag er mit dem Rest seines Körpers auf Wincents Füßen.
„Wincent, das ist Tim, mein Vater. Papa, das ist Wincent", stellte ich die beiden einander vor.
„Es freut mich sehr, dich kennenzulernen", erwiderte mein Vater.
Er klang tatsächlich sehr glücklich, weswegen ich mich etwas entspannen konnte.
„Ich freu mich auch", gab Wincent zurück.
Meine Blase meldete sich und ich fluchte innerlich. Doch was sein musste, musste sein.
„Kann ich euch kurz alleine lassen?", fragte ich.
„Ja", kam die einstimmige Antwort.
Okay, damit wäre das auch geklärt. Wenn sie sich jetzt schon einig waren, dann konnte nichts mehr schiefgehen.
Ich stand auf, was Fritz mit einem Brummeln kommentierte. Dann lief ich ins Badezimmer und überließ die drei Männer sich selbst.

Wincent

Als Anna den Raum verlassen hatte, war ich kurz wieder nervös. Immerhin war ich jetzt mit ihrem Vater alleine und so ganz einschätzen konnte ich ihn nicht.
„Ich kenn dich doch, oder?", fragte er mich.
„Kann gut sein", gab ich zu.
„Warst du nicht bei der Gala? Du hast doch mit den Kindern gesungen, richtig?"
„Ja."
„Ach Mensch. Wincent Weiss. Das ist ja eine Überraschung."
„Sie arbeiten dort, oder?", erinnerte ich mich. Anna hatte das erzählt.
„Ja, genau."
„Was machen Sie genau?"
„Sag bitte einfach Tim zu mir", bat ihr Vater.
„Okay. Ich bin Wincent." Ich reichte ihm meine Hand und er erwiderte den Händedruck. „Also, was machst du?"
„Ich bin im Bereich Bühnenbild und Requisite", erzählte er mir.
„Klingt spannend. Interessanter als Musiker."
„Wie man es nimmt." Er begann, mir von seiner Arbeit zu erzählen und ich war echt fasziniert.
Wir unterhielten uns noch eine Weile über alles Mögliche. Sympathischerweise hatte er annähernd genauso viel Ahnung von Fußball, wie ich, nämlich so gar keine. Über Technik kamen wir dann auf Autos und er wollte gerade alles über meine Schätze wissen, als Fritz anfing zu bellen.
Sofort hatte er meine ganze Aufmerksamkeit. Er sprang auf und ich spürte den Blick ihres Vaters auf mir. Doch das war jetzt egal.
„Ich geh mal nach Anna schauen", sagte ich, stand auf und lief in Richtung Badezimmer.
Fritz folgte mir sofort und wich nicht von meiner Seite.
Ich klopfte an der Badtür und sofort überkam mich ein Déjà-vu-Gefühl. Bitte nicht, flehte ich innerlich.
„Anna?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now