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Annalena

„Hey, alles klar? Du wirkst irgendwie so blass." Ich spürte Mats prüfenden Blick.
„Mir geht's gut. Wirklich."
Im nächsten Moment bekam ich die Information von meinem Handy, dass ein neuer Termin im Kalender stand. Wincent musste etwas eingetragen haben. Münster. Einkaufen.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass Wincent und ich jetzt wochenlang wieder nur schreiben konnten. Ich wusste nicht, ob ich das konnte. Mir fehlte einfach diese Nähe und das gemeinsam etwas Erleben.
„Anna. Irgendetwas stimmt doch nicht. Was ist los?", fragte Mats jetzt eindringlicher.
Der konnte scheinbar genauso stur und hartnäckig sein, wie Wincent. Ob das abfärbte? Oder war das so ein Männerding?
„Ich hab einfach ein bisschen Angst", gab ich zu.
„Wovor?"
„Naja, wenn Wincent und ich uns jetzt wieder wochenlang nicht sehen. Ich weiß nicht, ob ich das kann."
„Natürlich kannst du das. Anna, du bist eine starke, junge Frau."
„Ich weiß nicht... Gerade fühle ich mich eher wie ein anhängliches Kleinkind."
„Was ist los bei euch?", mischte sich Fabi ins Gespräch ein. Den hatte ich schon fast vergessen.
„Anna, du bist doch kein anhängliches Kleinkind", widersprach Mats mir.
„Aber ich fühle mich so", wiederholte ich.
„Warum?", will Fabi wissen.
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich jetzt alleine Zuhause zurecht kommen soll."
„Anna." Ich spürte Mats Hand auf meinem Arm. „Du warst jetzt so lange mit Wincent zusammen unterwegs, da ist das verständlich. Aber ich weiß, dass du das schaffst. Hast du doch all die Jahre auch. Denk doch mal an das Konzert in Berlin. Da warst du ganz alleine und hast es ohne Fritz gemeistert. Und den hast du ja auf jeden Fall."
Ein bisschen halfen mir Mats Worte. Doch die Angst blieb. Ich hatte das Gefühl, gar nicht mehr zu wissen, wie ich Dinge alleine machte. Ohne Back-up quasi.
„In Berlin war ich doch gar nicht alleine", korrigierte ich Mats. „Ich hatte Stefan und dich."
„Ach komm. Jetzt mach dich mal nicht kleiner als du bist."
„So klein bist du gar nicht", warf auch Fabi ein.
„Der Zwerg hat gesprochen", witzelte Mats.
„Ey!" Fabi schien diesen Spitznamen nicht wirklich zu mögen.
„Was denn?" Mats tat vollkommen unschuldig. „Willst du etwa behaupten, du wärst keiner? Ich kann dich auch Hobbit nennen, wenn das besser ist. Soweit ich mich erinnere, was das ein Zitat von dir."
„Ist ja gut", gab Fabi nach. „Mach, was du willst. Tust du ja sowieso."
Keine Ahnung, wie sie das machten, aber die sinnlose Diskussion zwischen Mats und Fabi lenkte mich von meinen negativen Gedanken ab.
„Ihr habt einen Knall, Jungs", sagte ich und lächelte leicht.
„Siehst du. Wenn du ein Kleinkind wärst, hättest du jetzt anders reagiert", sagte Mats.
„Woher weißt du das? Bist du etwa eins?", konterte Fabi.
„Sagt der Richtige. Aber mal ehrlich, ich arbeite mit Wincent zusammen. Wenn ich da nicht gelernt habe, wie sich Kleinkinder verhalten, dann weiß ich auch nicht."
„Ja, könnte etwas dran sein", gab Fabi zu. „Aber dürfen Kleinkinder schon Auto fahren?"
„Moment mal, Jungs. Wincent sagt doch immer, dass er alt ist. Kleinkind im Rentenalter geht doch nicht, oder?"
Damit war die Situation endgültig gebrochen, denn Mats und Fabi brachen in Gelächter aus, bei dem ich mich leider auch nicht beherrschen konnte.
„Bei Wincent geht alles", brachte Mats irgendwann heraus.

Wincent

Ich hatte irgendwie ein ungutes Gefühl, als ich in meiner Wohnung saß und wusste, dass Anna und ich uns eine Weile nicht sehen würden. Wobei sehen ja eh relativ war. Auf jeden Fall war Kassel das nächste Treffen, denn Mats hatte mich gefragt, ob ich zu Topic Auftritt nach Münster kommen wollte. Da konnte ich schlecht widerstehen, vor allem weil ich davor noch als Einkaufs-und Lieferdienst für eine Studentenparty gebucht wurde.
Kurz schrieb ich mit Anna, aber dann kam ein Anruf von Shayenne. Und ich nutzte jede Chance, mit meiner kleinen Schwester zu reden, die leider nicht mehr ganz so klein war.
„Winnie. Endlich erreicht man dich mal", bekam ich direkt zu hören, als ich den Videoanruf entgegengenommen hatte.
„Ja. Sorry. War viel los", entschuldigte ich mich.
„Wie läuft die Reha?"
„Sehr gut."
„Alles klar bei dir? Irgendwie wirkst du so abwesend."
„Ich hab nur nachgedacht, als du angerufen hast."
„Worüber?"
„Nicht so wichtig."
„Winnie... Ich bin keine sechs mehr. Was geht in deinem Kopf ab? So wie du gerade drauf bist, ist es etwas Wichtiges. Du vergisst, dass ich dich sehr gut kenne, Bruderherz."
Ich seufzte, denn Shayenne hatte schon Recht.
„Also gut. Du gibst ja eh nicht nach."
„Von wem ich das wohl gelernt habe..."
„Ich mach mir Sorgen."
„Um wen?"
„Ausnahmsweise mal nicht um dich."
„Gott sei Dank."
„Hey!"
„Ist ja gut. Red weiter."
„Ich mach mir Sorgen um Anna."
„Hä? Was ist denn mit deiner Managerin?"
„Nicht meine Managerin. Ich mach mir Gedanken, um eine andere Anna."
„Warte..." Shayenne sah mich durch die Kamera mit großen Augen an. „Wer ist sie? Doch nicht etwa..."
„Doch", bestätigte ich. „Meine Freundin."
„WAS?! Und das erzählst du nicht?"
In Shayennes Augen konnte ich verschiedene Emotionen lesen. Freude, Liebe, ein bisschen Angst und ein wenig auch Enttäuschung.
„MUM!", rief sie im nächsten Moment.
„Shay, bitte..."
„Da musst du jetzt durch", unterbrach sie mich und im nächsten Moment sah ich meine Mutter ins Zimmer kommen.
„Shay, du sollst doch nicht durchs Haus brüllen", tadelte sie meine Schwester.
„Sorry, aber es ist wichtig. Ich hab nämlich gerade etwas erfahren, was du nicht glauben wirst."
„Shay", versuchte ich es noch einmal und nun bemerkte meine Mutter mich auf dem Bildschirm.
„Hey mein Sohn. Wie geht's dir?", fragte sie und setzte sich neben meine kleine Schwester.
„Ganz gut soweit. Und bei euch? Alles klar?"
„Ja. Alles wie immer", antwortete meine Mutter.
„Winnie. Nun erzähl schon", bettelte Shayenne.
Meine kleine Schwester konnte manchmal eine ziemliche Nervensäge sein. Dennoch liebte ich sie über alles. Sie war meine Familie. Gemeinsam mit Mum, Oma und Opa.
„Was hab ich verpasst?", fragte Mum und ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar.
Ich wollte ihnen das eigentlich anders erzählen, aber egal. Jetzt musste ich da durch.
„Ich hab eine Freundin", erklärte ich meiner Mutter also.
„Seit wann?"
„Äh..." Ich kramte in meinem Gedächtnis. Wie lange war der Abend jetzt her?
„Sag nicht, dass du das vergessen hast." Shayenne sah mich anklagend an.
„Wir sind seit... einer Woche erst zusammen. Heute ist Tag sieben."
„Ist sie die Frau auf deinem Profilbild?", wollte Shayenne wissen und da fiel mir wieder ein, dass meine Familie das theoretisch ja schon viel früher hätte wissen können.
„Ja", antwortete ich ehrlich.
„Und ist das ihr Hund?" Shayenne schien richtig begeistert zu sein.
„Ja, das ist Fritz, Annas Hund."
„Wann lernen wir sie kennen?"
„Beruhig dich, Shay", mischte sich meine Mutter wieder ein. „Sei froh, dass er das jetzt schon erzählt hat. Normalerweise sagt er das nicht nach einer Woche."
Da hatte sie mal wieder vollkommen Recht. An der Stelle war ich vielleicht ein wenig wie Anna. Ich wollte mit meiner Familie erst reden, wenn ich mir sicher war. Beziehungsweise wollte ich sie ja einweihen, wenn ich nach der Reha nach Hause fuhr. Doch die Pläne bezweifelte ich gerade ein wenig. Doch eigentlich konnte ich das meiner Familie nicht antun.
„Ich weiß noch nicht. Aber ich komme morgen nach Hause."
„Wirklich?" Die Tonlage meiner Schwester rutschte mal eben nach oben.
„Ja. Ich hab einige Tage frei und wollte mal vorbeischauen. War viel zu lange nicht bei euch."

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now