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Annalena

Als ich wach wurde, wusste ich erst nicht, wo ich war. Ich zuckte kurz zusammen, als ich den stetigen Herzschlag an meiner Wange spürte. Dann jedoch fiel mir ein, dass ich Wincent gebeten hatte zu bleiben. Es war also alles in Ordnung. Kein Grund, in Panik auszubrechen.
Ich richtete mich ein wenig auf und versuchte dabei möglichst leise zu sein. Immerhin wollte ich Wincent nicht wecken. Und mir ging es gut. Ich hatte nur Heißhunger auf Schokolade. Wo bewahrte mein Vater nochmal den Vorrat auf?
Als es mir wieder einfiel, rutschte ich zur Bettkante. Vorsichtig, um nicht aus Versehen Fritz zu treffen, stellte ich sie ab. Doch da war kein Hund, stellte ich schnell fest. Wo steckte der schon wieder? Naja, egal. Weg wird er ja nicht sein. Vielleicht lag er auf Wincents Bettseite.
Ich ging ins Wohnzimmer und tastete mich zum Schrank unter dem Fernseher. Die Schublade ging noch immer etwas schwer und quietschte etwas, was mich kurz zusammenzucken ließ. Doch die drei anwesenden Männer schienen einen tiefen Schlaf zu haben, weswegen ich mich dann wieder meiner eigentlichen Mission zuwandte. Zum Glück war mein Vater, genau wie ich normalerweise, eine richtige Naschkatze und so war das Schubfach gut gefüllt. Perfekt für meine Zwecke.
„Anna?", fragte genau in diesem Moment eine leise Stimme hinter mir.
Erschrocken zuckte ich zusammen und versuchte, möglichst unauffällig das Schubfach wieder zu schließen.
„Keine Sorge, ich verrate dich nicht", kam es leise lachend von hinter mir.
„Musst du mich so erschrecken?", fragte ich Wincent.
„Sorry", murmelte er und im nächsten Moment spürte ich Fritz nasse Zunge auf meinem Bein.
„Du bekommst keine Schokolade", sagte ich an meinen Hund gewandt. „Wo warst du überhaupt?"
„Der lag neben meinem Bett und hat geschlafen", erklärte Wincent mit.
„Und er ist dir nicht gefolgt?"
„Doch, aber ich hab ihn festgehalten", gab Wincent zu. „Sonst hätte er uns ja verraten."
„Du bist doof", sagte ich und griff wieder in die Schublade.
„Was machst du eigentlich um diese Zeit hier?"
„Ich habe Hunger."
„Und da gehst du nicht in die Küche?"
„Nein. Ich brauche Schokolade. Die ist hier."
„Nachts um vier brauchst du Zucker?"
„Ja."
„Okay...", erwiderte er gedehnt. „Hast du überhaupt schon etwas gegessen."
Ich dachte nach, obwohl ich die Antwort kannte. Ich wollte nicht, dass er sich Gedanken um mein Essen machte. Ich wusste, er meinte es nur gut, aber so Heißhunger war für meine Verhältnisse besser als gar nichts.
Ich packte die Schokolade aus, die ich in den Händen hielt und biss ein Stücken ab.
„Ja", antwortete ich mit wieder leerem Mund und aß weiter.
„Lass mich raten: Ein, nein, warte. Zwei Stücke Schokolade."
Ich nickte. Ja, es war jetzt nicht das, was man unter gesunder Ernährung verstand, aber gut. Ich musste klein anfangen, wenn ich nicht wieder in die Magersucht fallen wollte. Alles, was ich aß, war prinzipiell gut. Solange ich es im Magen behielt.
„Willst du auch?", fragte ich ihn.
„Gerne."
Ich nahm zwei Packungen aus dem Schubfach und reichte eine an Wincent weiter.
Wer hätte gedacht, dass ich mal... nachts um vier in der Wohnung meines Vaters sitzen und mit einem Mann Schokolade essen würde?
Keine Ahnung, wie viel am Ende in meinem Magen landete, aber es war eine Menge. Ich hatte halt einen ganzen Tag aufzuholen und zum ersten Mal seit die Symptome zurück sind, wird mir nicht schlecht.
„Anna, ich glaube, du solltest langsam wieder ins Bett", sagte Wincent irgendwann.
„Aber ich hab noch Hunger", protestierte ich.
„Von Schokolade wirst du auch nicht satt. Wir können dir in der Küche bestimmt noch etwas Sättigendes beschaffen."
„Ich will aber Schokolade. Die esse ich auch im Bett, wenn es sein muss."
Vermutlich benahm ich mich gerade wie ein Kleinkind in der Trotzphase, aber es war mir egal. Meine Hormone spielten manchmal etwas verrückt, das kannte ich noch vom letzten Mal.
„Anna. Ich denke, du hattest genug. Noch mehr davon und du bekommst einen Zuckerschock."
„Ich hab gute Gene. Mach dir keine Gedanken", erwiderte ich nur. Gott, was war denn jetzt mit mir los? Das war ja gar nicht mehr ich.
„Maus, ab ins Bett. Du kannst in drei Stunden Frühstück haben."
„Na gut", murmelte ich, denn müde war ich schon.
Allerdings war das Aufstehen nicht ganz so einfach wie ich dachte. Ich schwankte etwas, aber Wincent hielt mich fest.
„Sag mal, kann es sein, dass irgendwo in der Schokolade Alkohol war?", fragte er.
„Keine Ahnung", gab ich zu.
Wincent lachte leise.
„Was ist jetzt so lustig?", fragte ich ihn.
„Nichts", erwiderte er, aber das unterdrückte Lachen hörte ich trotzdem.
Ich war allerdings zu fertig, um weiter darüber zu reden. Ich lehnte mich einfach an Wincent.
„Den Weg schaffst du noch", sagte er und nahm meine Hand.
Ich ging davon aus, dass Fritz uns ins Schlafzimmer folgte, aber das Gefühl von meiner Hand in Wincents plus die Hormone und eventuell Alkohol, ließ mich alles ausblenden. Ich versuchte, mich nur darauf zu konzentrieren, nicht umzufallen. Das ging auch ganz gut, aber sobald Wincent meine Hand losließ, fiel ich quasi übergangslos aufs Bett. Ich schloss ganz automatisch die Augen und bekam nicht mehr sonderlich viel mit. Schlafen, war mein letzter Gedanke.
Geweckt wurde ich durch den Geruch von frischem Kaffee, der durch die Wohnung zog. Leider löste er etwas aus, worauf ich gerne verzichtet hätte. Mein erster Weg führte mich direkt ins Badezimmer, was mir unwillkürlich Tränen in die Augen trieb. Das konnte doch nicht wahr sein! Wann wachte ich aus diesem scheiß Traum auf? Ich wollte das alles nicht.
Ich saß eine ganze Weile auf dem kalten Fliesenboden und ließ mich von meinen Emotionen überrollen. Dann stand ich auf, drückte die Spülung, womit ich verriet, dass ich aufgestanden war, und stüzte mich ein wenig aufs Waschbecken. Mit Hilfe von viel kaltem Wasser und dem bisschen Make-up, das Lara mir mal aufgeschwatzt hatte, bewegte ich mich langsam in Richtung menschliches Aussehen. Das zumindest hoffte ich.
Es klopfte an der Badtür.
„Anna?"
„Ja?"
„Alles okay?"
„Ja. Alles gut."
Ich ging zur Tür und öffnete sie.
„Ähm... Bist du dir sicher?", fragte Wincent und klang etwas verwirrt.
„Wieso?"
„Naja, wenn du jetzt so deinem Vater begegnest, dann merkt er sofort, dass etwas nicht stimmt", sagte er leise.
„Hä?"
„Ach Maus. Wenn das in deinem Gesicht mal so etwas wie Make-up werden sollte, musst du noch ein wenig üben."
„So schlimm?", fragte ich. „Bin nicht so begabt, was den Kram angeht."
„Musst du auch nicht sein", erwiderte er. „Soll ich dir helfen?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now