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Annalena

Wincent war doch verrückt. Ich wusste gar nicht, wohin mit meinen Emotionen. Ich wollte nicht schon wieder vor ihm in Tränen ausbrechen. Das hatte er nun häufig genug gesehen. Konnte der mich nicht ein klitzekleines bisschen vorwarnen? Wie zauberte er solche Sachen immer einfach aus dem Hut? Und womit hatte ich das verdient? Ich verstand es einfach nicht.
„Die große Bühne brauchst du nicht, denn du rückst andere ins Licht. Ich würd's vermissen. Und wie du selbst über dich lachst, wenn ich es grade mal nicht schaff'. Oh, ich würd's vermissen. Ich sag's dir viel zu selten, wie schön das Leben mit dir ist. Ich sag's dir viel zu selten, ich funktionier' nicht ohne dich. Manchmal glaube ich, ja, ich trau' mich nicht, weil's auch 'n bisschen kitschig ist. Ich sag's dir viel zu selten, dass du mehr als alles für mich bist."
Die letzten Worte und Töne standen einfach so zwischen uns im Raum und ich konnte einzelne Tränen nicht zurückhalten.
Ich hörte, wie Wincent sich auf dem Bett bewegte und sobald ich seinen Arm spürte, ließ ich mich in seine Arme fallen. Dort war ich sicher. Also nicht vor meinen Gefühlen, aber gefühlt vor dem Rest der Welt. Wincent war mein Safeplace geworden.
„Alles gut?", fragte er nach einer Weile.
„Ja."
„Sicher?"
„Ganz sicher, du verrückter Kerl."
Er lachte leicht und ich kuschelte mich noch enger an ihn. Der Mann machte mich fertig.
„Ich liebe dich, Anna."
„Ich liebe dich, Wince."
Er gab mir einen Kuss auf den Kopf, mehr brauchten wir gerade nicht. Es reichte, einfach in seinen Armen zu liegen. Wincent legte sich auf den Rücken und zog mich mit, sodass ich mit dem Kopf auf seiner Brust lag. So schlief ich auch relativ schnell ein. Emotionen machten mich immer ziemlich müde.
Am nächsten Morgen wachte ich genau in der Position auf. Ich spürte Wincents gleichmäßige Atemzüge und schloss glücklich noch einmal die Augen. Ich wollte gerade nicht zurück in die Realität. Das hier war um Welten schöner.
„Guten Morgen", kam es noch leicht verschlafen von Wincent, der scheinbar gemerkt hatte, dass ich schon wach war.
„Guten Morgen", erwiderte ich, ohne mich irgendwie zu bewegen.
„So sehr ich es genieße, mit dir hier zu liegen, ich weiß nicht, wann Mats kommt."
„Mhm."
Wincent lachte leicht und strich mit seiner Hand von meinem Handgelenk den Arm nach oben.
„Komm, ich mach uns Kaffee und Frühstück", versuchte er mich zu bestechen.
„Mhm."
„Hey, Morgenmuffel ist mein Job."
„Heute ja offenbar nicht", konterte ich.
„Vorschlag. Ich stehe auf, geh mit Fritz eine Runde und bringe Frühstück mit."
„Okay", gab ich nach, da ich keine Lust hatte, mit ihm zu diskutieren. Ich kannte seinen Dickschädel immerhin schon.
Etwas widerwillig ließ ich meinen Freund aufstehen, während ich mich auf seine Bettseite kuschelte. Wincent gab mir einen kurzen Kuss, bevor er aus dem Zimmer verschwand.
Fritz bellte empört auf und ich hörte, wie er Wincent folgte. Der Hund hatte definitiv einen Schaden, seit wir Wince kannten.
„Hab ich jetzt etwa einen Schatten?", hörte ich meinen Freund lachen. „Wollen wir Frühstück holen?"
Fritz bellte wieder und das Lachen entfernte sich immer weiter vom Schlafzimmer weg. Ich schloss einfach meine Augen und sog den Duft von Wince, der noch im Bettzeug hing, auf. Würde das jetzt immer so sein? Dass ich nie ohne ihn sein wollte? Wieso war Liebe so? Das machte es doch nur unnötig kompliziert.

Wincent

Ich kontrollierte nochmal kurz, ob ich alles hatte. Handy, Geld, Fritz Tasche und Schlüssel. Jacke und Schuhe, alles da.
„Auf geht's", forderte ich Fritz auf und gemeinsam liefen wir die Treppen hinunter.
Es war so viel einfacher als gestern, aber die Herausforderung, blind durch die Gegend zu laufen, würde ich immer wieder annehmen. Erstaunlicherweise achtete ich zum ersten Mal darauf, was es auf dem Weg zum Park so zu sehen gab. Noch nie hatte ich den kleinen Brunnen wahrgenommen, der vor dem Restaurant auf der Ecke stand. Ich wusste auch gar nicht, dass der Blumladen so ein bunt und wunderscjön gefülltes Schaufenster hatte. Selbst die Löwenskulpturen, die an den Eingängen des Parks auf Säulen wachten, sah ich zum ersten Mal. Wer von uns war jetzt blind?
Die Runde mit Fritz war ziemlich entspannt. Ich genoss es, einfach mal an der frischen Luft zu sein, ohne jegliche Verpflichtungen zu haben. Einen kurzen Moment lang gab es nur Fritz und mich. Und Anna, die Zuhause auf unsere Rückkehr wartete. Viel schöner konnte es eigentlich nicht mehr werden.
Doch dieser Gedanke wurde leider durch das Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich nahm den Anruf an, ohne vorher auf das Display zu sehen.
„Weiss?"
„Moin Wince."
„Mats. Was verschafft mir die Ehre?"
„Ich wollte wissen, wann wir uns treffen wollen. Und was dein Plan ist."
„Ähm." Da erwischte er mich eiskalt, denn Gedanken darüber hatte ich mir natürlich noch nicht gemacht.
„Wince", kam es drohend vom anderen Ende der Leitung. „Das ist nicht dein Ernst!"
„Lass uns doch runter nach Österreich fahren. Du weißt schon, in dieses schnuckelige Häuschen. Dann könnten wir die ersten Aufnahmen machen. Wegen Crewmas meine ich", schlug ich das Einzige vor, was mir spontan einfiel.
„Du willst jetzt schon anfangen?"
„Natürlich nicht öffentlich. Aber ich hab morgen ja wieder Reha. Da können wir nicht so weit weg fahren. Und vielleicht können wir noch ein wenig wandern gehen."
„Hol mal Luft", unterbrach mich Mats. „Klingt alles plausibel. Ich mach das, was du sagst. Ganz einfach. Wann wollen wir uns treffen?"
„Ich muss noch Frühstück besorgen. Sagen wir in einer Stunde bei mir?"
„Okay. Machen wir so. Ich frühstücke dann mal etwas mehr, wenn du noch in die Berge willst", lachte Mats.
„Sehr kluge Entscheidung. Bis später."
„Bis dann."
Ich steckte das Handy wieder ein und machte mich mit Fritz auf den Rückweg. Beim Bäcker holte ich schnell einige Brötchen und etwas für unterwegs. Fürs Mittagessen hatte ich bestimmt noch etwas Zuhause.
Shit! Das Haus. Ich nahm mein Handy doch nochmal hervor und wählte die Nummer.
„Maurer?"
„Hallo Maria. Hier ist Wincent Weiss."
„Ah, Wincent. Schön, von dir zu hören. Wie geht's dir?"
„Sehr gut. Ähm... ich brauch mal deine beziehungsweise eure Hilfe."
„Wobei denn?"
„Ich muss ein Shooting mit meinem Fotografen machen. Und dafür bräuchte ich den Schlüssel für das kleine Häuschen am See", erklärte ich Maria.
„Das ist doch kein Problem. Komm einfach vorbei und dann bekommst du ihn."
„Du bist meine Rettung. Danke."
„Nicht dafür."
„Hunde waren immer noch okay, richtig?"
„Ja. Hast du etwa einen?"
„Quasi."
„Ich bin sehr gespannt." Ich hörte Maria lächeln.
„Ich denke, so in drei Stunden sind wir da, wenn das passt."
„Ich bin auf jeden Fall Zuhause."
„Das ist gut. Dann bis später und danke nochmal."
„Bis später, Wincent."

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt