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Wincent

Kurz war ich überfordert. Worüber wollte sie reden? Doch meine Neugierde und meine Sorge überwogen.
„Klar. Ich hab nichts weiter vor", antwortete ich. „Aber Anna, nur wenn du willst, ja?"
Sie nickte. „Ja. Weißt du, ich hab das noch nie jemandem erzählt. Also mein Vater weiß es und Steffi. Aber niemand anderes. Nicht einmal meine beste Freundin kennt diesen Teil meines Lebens."
„Und du willst das wirklich mir erzählen?", hakte ich überrascht nach.
„Ja. Ich glaube, du kannst das irgendwie verstehen."
„Okay."
Wir liefen einfach ein Stück ohne ein Wort zu sprechen. Aber das war okay. Ich versuchte meine Gedanken irgendwie zu sortieren und Anna tat vermutlich das gleiche. Der einzige, der absolut entspannt war und sich sichtlich freute, war Fritz.
Was wollte Anna erzählen? Wieso wusste bisher niemand anderes davon? Warum erzählte sie ausgerechnet mir das? Lieferte sie vielleicht die Erklärung für die letzte Nacht und heute Morgen? Konnte ich ihr helfen?
„Hier ist eine Bank, direkt am Wasser. Wollen wir hier bleiben?", fragte ich irgendwann.
„Klingt gut."
„Hier ist auch niemand."
Ich nahm Annas Hand und führte sie zu der Bank. Als sie saß, setzte ich mich daneben. Fritz legte sich mal wieder zwischen unsere Füße.
Anna atmete tief durch und ich zwang mich, ruhig zu bleiben.
„Vor zehn Jahren...", begann Anna zögernd.
Ich nahm ihre Hand und drückte sie. „Willst du das wirklich?", fragte ich sanft nach.
„Ja."
„Okay. Dann hör ich zu. Lass dir aber so viel Zeit, wie du brauchst."
„Kannst du... kannst du meine Hand festhalten?", fragte sie leise.
„Natürlich." Ich verschränkte unsere Finger miteinander und legte sie auf meinen Oberschenkel.
Anna atmete nochmal tief aus.
„Vor zehn Jahren begann die für mich bisher schlimmste Zeit meines Lebens. Ich war gerade siebzehn geworden und wusste, dass im folgenden Jahr das größte Event der Schullaufbahn stattfand - der Abiball. Bereits zu Beginn des Schuljahres, ich war elfte Klasse, ging die Diskussion um diesen Abend los. Die Mädels begannen mit Plänen für ihre Kleider und all so etwas. Mich interessierte das eher weniger. Ich dachte mir so: Ich habe noch mindestens anderthalb Jahre, um mir Gedanken zu machen. Das Kleid würde ich mit meinem Vater dann rechtzeitig vorher kaufen, und zwar eins, in dem ich mich wohlfühlte. Damit war das Thema für mich abgehakt. Für alle anderen aber nicht. Wochenlang drehte sich alles um die Kleider beim Abiball. Ich war nicht wirklich dick damals, eher so durchschnittlich. Ungefähr wie heute. Die anderen Mädels redeten allerdings hauptsächlich davon, welche Kleidergröße ihnen am besten stand und wie viel sie dafür abnehmen müssten."
Ich holte scharf Luft, denn ich ahnte, wie die Geschichte weiterging.
„Naja und da ich wegen meiner Blindheit eh schon immer auffiel, wollte ich einmal dazugehören. Oder mich zumindest so fühlen. In meiner damaligen Klasse kam niemand damit zurecht, dass ich nichts sah. Ich war immer die, die eigentlich auf eine andere Schule gehen sollte. So zumindest die Meinung der anderen. Doch zurück zum Abiball. Ab der zweiten Schulwoche ungefähr fingen die Mädels mit ihren Diäten an. Die Gespräche waren leider nicht zu überhören. Und damit ich nicht schon wieder auffiel, zog ich mit. Allerdings bekam mir das nicht ganz so gut wie dem Rest. Schnell rutschte ich da komplett rein und wurde magersüchtig. Niemand konnte mich dazu bringen, irgendwas zu essen."
Ich sah die Tränen in ihren Augen, als sie sich daran erinnerte. Sie selbst hatte sich damals nicht gesehen, aber jeder andere konnte es. Ich wollte nicht in der Haut ihres Vaters stecken, der zusehen musste, wie seine Tochter immer dünner wurde. Unwillkürlich bekam ich eine Gänsehaut.
„Was niemand wusste, war, dass ich nicht nur mit Magersucht zu kämpfen hatte. Obendrauf kam ein depressiver Schub. In der zwölften Klasse rutschte ich dann komplett ab. Ich stand fast nicht mehr aus dem Bett auf, ignorierte alles und jeden und wollte nur noch, dass es aufhörte."
Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich zog Anna einfach in meine Arme und hielt sie fest, während die Erinnerungen auf sie einprasselten.

Annalena

Ich krallte mich an Wincents Shirt fest und weinte einfach. Das Gefühl von damals war einfach wieder zu präsent. Dabei ging es mir heute doch um Welten besser. Ich hatte echte Freunde, eine eigene Wohnung, einen Job, Fritz und Wincent. Wieso kam der Anfang vom depressiven Schub zurück? Warum konnte ich wieder einmal nichts essen?
„Wincent, ich will das nicht", kam es gerade so über meine Lippen, bevor meine Emotionen wieder die Kontrolle übernahmen.
„Shhh... Es ist alles gut", murmelte Wincent, zog mich noch enger an sich und streichelte mir über den Rücken. „Du bist so stark, du schaffst das."
Das hat mein Vater damals auch gesagt. Und Steffi. Aber nur solange, bis ich nur noch ein Schatten meiner selbst war. Ich habe den Tonfall noch ganz genau im Kopf. Die gebrochene Stimme meines Vaters. Seine Sorge, seine Verzweiflung und das alles nur wegen mir. Weil ein Monster meinen Körper übernommen hatte.
„Anna. Hör mir mal bitte zu. Du sitzt jetzt hier. In Hamburg. Am Wasser. Mit Fritz. Dein Vater wartet ganz sicher Zuhause auf dich. Egal, wie tief du damals gesunken bist, du hast es wieder ans Licht geschafft. Aus deinem siebzehnjährigen Ich, das nur noch das Ende wollte, ist eine fröhliche und liebevolle, schöne junge Frau geworden. Im Grunde wie ein Schwan, der als graues Küken zur Welt kommt. Oder ein Schmetterling, der früher eine Raupe war."
„Aber Raupen fressen sich dick, bevor sie sich verwandeln", warf ich ein, obwohl mir eindeutig nicht nach Lachen war.
„Oh, ich habe intelligent vergessen. Sorry." Er lachte leicht. „Was auch immer du damals durchgemacht hast, es hat dich nicht zerstört. Im Gegenteil. Es hat dich stärker gemacht. Und auch, wenn es dir jetzt wieder schlecht geht, heißt es nicht, dass sich alles wiederholt. Du kannst etwas tun. Du kannst den Kreislauf durchbrechen. Vielleicht nicht alleine, aber du hast deinen Vater, Steffi..." Er machte eine Pause. „Und mich."
„Danke", murmelte ich an seiner Brust, als ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte. „Danke für alles."
„Ich danke dir für dein Vertrauen", antwortete Wincent. „Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast und ich verspreche dir, dass ich dir helfen werde. Ich weiß, wie schwer es ist, Hilfe anzunehmen, obwohl man weiß, dass es der einzige Weg ist."
Ich löste mich etwas von ihm und sah überrascht zu ihm auf. „Du? Woher?"

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now