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Annalena

„Bei dir sein", antwortete Wincent.
„Und dein Job?"
Jetzt löste er sich ein wenig von mir und sofort vermisste ich seine Nähe, obwohl er noch immer vor mir stand.
„Anna, nichts kann wichtiger sein als du", sagte er und ich bekam direkt einen Kloß im Hals.
Noch nie hatte mir jemand so etwas gesagt. Gut, mein Vater, aber der zählte nicht wirklich.
Ich war so überfordert, dass ich nichts erwidern konnte, aber damit schien Wincent auch nicht zu rechnen. Er gab mir einfach nur einen Kuss auf die Stirn und zog mich wieder an sich.
„Kommt, wir gehen ins Wohnzimmer", schlug Mats vor, dessen Anwesenheit ich fast ein wenig vergessen hätte.
„Mhm", murmelte ich an Wincents Brust, denn bewegen wollte ich mich eigentlich nicht.
„Komm, Maus. Oder soll ich dich tragen?"
Ich nickte nur und merkte, wie Wincent mich vorsichtig hochhob. Daran konnte ich mich fast gewöhnen, so oft wie er das inzwischen gemacht hatte.
„Ich glaube, ihr braucht Zeit für euch. Ähm, ich schnappe mir mal Fritz und dreh eine Runde mit ihm. Ihr kommt doch klar, oder?", fragte Mats.
„Kommst du mit Fritz klar?", fragte Wincent, der sich inzwischen auf die Couch gesetzt hatte.
Ich saß auf seinem Schoß und wollte da auch nicht wieder weg.
„Bestimmt irgendwie", antwortete Mats.
„Okay. Dann viel Spaß."
„Danke Bis später, ihr zwei."
„Bis dann", erwiderten Wincent und ich gleichzeitig.
Während Mats nach meinem Hund rief und sich dann fertig machte, schwiegen Wincent und ich. Wir genossen einfach kurz diesen Moment und es brauchte gar keine Worte. Allein die Anwesenheit des jeweils anderen reichte aus.
Ich kuschelte mich noch näher an ihn, denn das half mir im Moment, mich zu entspannen. Ich wusste bis vor einigen Tagen gar nicht, wie sehr man einen Menschen vermissen konnte. Am liebsten hätte ich mich ganz klein zusammengerollt und irgendwo in Wincents Tasche versteckt. Doch das ging leider nicht und ich musste ganz schnell lernen, damit umzugehen. Allerdings würde ich damit nicht jetzt anfangen.
„Alles gut?", fragte Wincent irgendwann.
„Jetzt ja", murmelte ich.
„Was war los?"
Ich antwortete nicht, da ich allein beim Gedanken daran einen Kloß im Hals bekam.
„So schlimm?" Er strich mir beruhigend über den Rücken.
Ich nickte und hoffte, dass er es verstand.
„Aber jetzt bin ich ja da. Alles gut."
„Ich weiß", antwortete ich leise. „Danke."
Mir war bewusst, dass ich ihm das alles noch erzählen musste, aber ich wusste absolut nicht, wie das gehen sollte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, in meinem Kopf die Sätze zu ordnen, kam alles wieder hoch. Ich konnte einfach nicht mehr. Jede Panikattacke drohte mich wieder auf den Boden zu zwingen. Da wollte ich nicht wieder hin, denn dann müsste ich aufgeben. Ich wusste nicht, woher die Kraft kommen sollte, noch einmal aufzustehen.

Wincent

Anna schien die ganze Zeit immer so halb in Gedanken zu sein. Mein Kopf platzte fast vor all den Fragen, die ich hatte. Andererseits traute ich mich nicht, auch nur eine einzige davon zu stellen. Ich wollte einfach vermeiden, dass sie am Ende noch weiter abrutschte und gar nicht mehr mit uns darüber sprach. Das wäre einfach der Worstcase und ich wollte es mit allen Mitteln vermeiden. So hielt ich sie einfach nur fest und genoss es schon fast ein wenig, sie wieder in den Armen halten zu können. Bis ich Anna getroffen hatte, wusste ich gar nicht, wie sehr man einen Menschen vermissen konnte.
„Hey, kann ich kurz aufstehen?", fragte ich vorsichtig.
„Mhm." Sie kuschelte sich noch ein bisschen näher an mich und das interpretierte ich als ‚nein', was auch irgendwie okay war.
Also eigentlich wäre ich schon gerne kurz aufgestanden, aber wenn Anna mich gerade mehr brauchte, dann konnte ich auch warten. Mir war es einfach wichtiger, dass es ihr gut oder wenigstens ein bisschen besser ging. Das war meine Aufgabe, immerhin war ich ihr Freund und im Moment auch die einzige Bezugspersonen. Gut, Mats war noch da, aber ich glaube, er war froh über meine Anwesenheit.
„Was hältst du von einem Hörspiel oder willst du lieder reden?", fragte ich irgendwann, denn so langsam erdrückte mich die Stille ein wenig.
Nicht, weil ich mit Anna nicht schweigen konnte, sondern weil so viel zwischen uns stand, was dringend ausgesprochen werden sollte.
„Hörspiel ist gut. Oder Musik", erwiderte sie.
„Okay. Irgendwelche Wünsche?"
„Such einfach aus."
Ich angelte nach meinem Handy und scrollte ein wenig durch meine Playlisten auf Spotify. Am Ende startete ich meine Motivationsplaylist. Die half mir zumindest immer, wenn ich wieder in ein Tief zu rutschen schien. Vielleicht funktionierte das bei Anna ja auch.
Ich legte das Handy neben uns auf die Couchlehne und schloss dann meine Arme wieder um Annas Oberkörper.
„Danke", murmelte Anna.
„Wofür?"
„Dass du da bist und dass du mir Zeit gibst."
„Das ist für mich klar." Ich gab ihr einen Kuss auf den Kopf.
„Ich weiß einfach nicht, wie ich das erzählen soll", gab sie leise zu. „Das ist einfach viel zu schwer."
„Hey, alles gut", sagte ich, als ich merkte, wie sie damit zu kämpfen hatte. „Du hast alle Zeit der Welt, okay?"
„Danke."
Mir war klar, dass ich Anna die Zeit geben musste. Ich würde es natürlich nicht einfach dabei belassen, aber sie drängen, brachte auch nichts. Das wusste ich von mir selbst auch noch ganz genau. Dennoch hoffte ich sehr, dass Anna schneller über ihren Schatten springen konnte, als ich damals. Wie konnte ich mit meinen Erfahrungen helfen? Konnte ich überhaupt etwas tun, außer da zu sein? Beide Fragen beschäftigten mich ziemlich, denn ich hasste es absolut, mich hilflos zu fühlen. Möglicherweise musste ich das mit Marco noch einmal diskutieren. Vielleicht konnte ich ihm nachher schreiben, wenn Mats einen Blick auf Anna hatte. Ich fühlte mich ein wenig wie ein kleiner Junge, der nicht alleine an die Gardine kam, um morgens die Sonne ins Zimmer zu lassen. Und das war kein gutes Gefühl. Doch jetzt musste ich irgendwie für Anna stark sein. Zumindest sagte ich mir selber das die ganze Zeit innerlich. Denn wer, wenn nicht ich, konnte sie wieder dazu bringen, glücklich zu sein?

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt