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Annalena

„Ähm... Mach ruhig welchen ran."
Mats gab sich so viel Mühe, mir Zeit zu lassen und eine normale Umgebung zu schaffen, dass ich ihm nicht sagen konnte, dass ich nichts aß. Vermutlich dachte er sich seinen Teil und Wincent ganz sicher auch.
Davor hatte ich ehrlicherweise am meisten Angst. Ja, Wincent war mein Freund, aber trotzdem. Ich war doch eigentlich alt genug, aber die eine Woche wieder alleine in Berlin zeigte mir, dass ich es einfach nicht konnte. Wincent war viel unterwegs und das sollte er auch weiterhin unbeschwert tun. Andererseits hatte ich das Gefühl, ohne ihn komplett nutzlos zu sein. Wie ein Bett ohne Lattenrost und Matratze. War halt da, aber nahm im Grunde nur Platz weg. Könnte schön sein, aber war eben defekt oder unvollständig.
„Anna? Ist alles okay?" Mats Stimme klang jetzt ganz nah.
Ich wollte nicken, aber in diesem Moment spürte ich schon die erste Träne, die sich verbotenerweise einen Weg über mein Gesicht bahnte.
Mats sagte gar nichts, sondern nahm mich einfach nur in den Arm und in diesem Moment konnte ich die anderen Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich in den letzten Tagen so viel geweint habe, dass es irgendwann aufhören müsste. Doch scheinbar lag ich da falsch, denn mir fiel es sehr schwer, wieder aufzuhören.
Mats hatte in den wenigen Minuten, die er hier war, einfach meine Mauer zum Einsturz gebracht. Und jetzt saß ich hier und ließ mich von einem Mann trösten, der mein jüngerer Bruder sein konnte. Wie tief war ich denn bitte gesunken?
„Hey Anna, es ist alles gut. Du bist nicht mehr allein", versuchte Mats mich zu trösten. „Was geht in deinem Kopf vor, mhm?"
Ich konnte leider nicht antworten, aber Mats rechnete wohl auch nicht damit. Zumindest hielt er mich einfach weiter fest. Zumindest solange, bis ich eine nasse Hundezunge an meiner Hand spürte. Offenbar wollte Fritz mich auch trösten, so wie die letzten Tage auch schon.
Allerdings tat mir ehrlicherweise Mats Anwesenheit ein bisschen besser als die meines Hundes. Immerhin war Fritz im Zweifelsfall genauso hilflos wie ich.
„Geht's wieder?", fragte Mats nach einer gefühlten Ewigkeit, als ich mich endlich halbwegs wieder beruhigt hatte.
Ich nickte nur, denn sprechen konnte ich immer noch nicht.
„Warte kurz", sagte Mats und ich hörte erst sich entfernende und dann wieder sich nähernde Schritte auf dem Küchenboden. „Hier."
Er reichte mir einige Taschentücher, die ich dankbar annahm.
„Kommst du klar? Dann mach ich das Essen fertig. Ich finde, wir sollten danach in Ruhe reden. Mit leerem Magen macht sich das schlecht."
„Okay", erwiderte ich leise und war ganz dankbar, dass meine Stimme zurück war.
Ich musste Mats irgendwie von den letzten Tagen erzählen, auch wenn ich absolut keinen Plan hatte, wie das gehen sollte.
„Die Pfannen mittig unterm Herd und dann ganz unten", erklärte ich meinem Gast.
„Danke. Den Rest hab ich schon gefunden. Brauchst du vielleicht ein Glas Wasser?"
„Das wäre gut, danke."
Ich hörte, wie einige Schränke geöffnet wurde.
„Oben links. Und dann unteres Fach."
„Danke." Dann ging der Wasserhahn auf und im nächsten Moment stellte Mats das Glas vor mir auf dem Tisch ab.
Ich tastete danach und trank dann einige Schlucke. Das kühle Getränk tat richtig gut und ich merkte, wie viel Durst ich hatte. Mein Körper musste in den letzten Tagen ziemlich leiden, in denen ich mich fast gar nicht bewegt habe. Hoffentlich bekam ich das wieder irgendwie hin.

Wincent

„Hey. Na, wie geht's dir? Du siehst ziemlich fertig aus."
Marco nahm mich zur Begrüßung kurz in den Arm und ich war einfach nur dankbar, dass er da war.
„Könnte besser sein", antwortete ich.
„Ist was passiert? Hast du irgendwie Stress mit Anna?" Mein bester Freund sah mich fragend an.
„Ne. Ihr geht's scheinbar nicht sehr gut. Auf jeden Fall hatten wir einige Tage jetzt gar kein Kontakt, weil ihr Handy aus war. Ich hab einfach so verdammt Angst, sie zu verlieren", berichtete ich Marco.
„Klingt nicht gut. Immer noch das Gleiche wie in Hamburg?"
„Keine Ahnung. Ich hab nicht mit ihr gesprochen, aber ich vermute es. Das macht es allerdings nicht weniger schlimm, eher im Gegenteil." Ich ließ mich in den warmen Sand fallen und fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht.
Marco setzte sich neben mich. „Und jetzt?"
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Eigentlich würde ich am liebsten schon längst in Berlin sein."
„Aber?"
„Ich hab meiner Mum und Shay versprochen, dass ich hier bin. Außerdem geht in wenigen Tagen auch die Sommertour weiter. Wenn ich jetzt zu Anna fahre, dann kann ich die Tour vergessen. Ich will dann ganz für sie da sein und nicht wieder weg müssen. Verstehst du?"
„Aber Wince, so machst du dich doch auch kaputt. Vielleicht braucht Anna dich gerade jetzt. Dann wäre es doch Schwachsinn, wenn du hier bist. Außerdem siehst du nicht gerade fit aus. Ich bezweifle ein wenig, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast", merkte Marco an. „Was ist denn der Stand bei Anna?"
„Das erfahre ich vielleicht heute Abend erst. Mats ist gerade bei ihr."
„Der kommt doch auch mit auf Tour, oder?"
„Ja. Warum?"
„Wenn er doch auch in Berlin ist, wieso sitzt du dann hier im Norden und gehst an deinen Gedanken kaputt?" Marco sah mich prüfend von der Seite an.
„Ich..."
„Versuch es gar nicht erst zu leugnen, mein Freund. Ich kenne dich lange und gut genug. Die Gedanken stehen dir quasi auf die Stirn tätowiert."
Ich seufzte, denn natürlich hatte er Recht. Ich zerbrach mir die ganze Zeit ja den Kopf darüber, was bei Anna los sein könnte und wie ich ihr helfen konnte. Ich dachte, nach Marcos Worten, noch einmal darüber nach, zu ihr zu fahren. So lang war die Strecke jetzt wirklich nicht und es stimmte. Mats würde ja auch von dort aus dann zum nächsten Konzert kommen.
„Wince, es gibt keine andere Lösung, wenn du nicht komplett zugrunde gehen willst", redete mir Marco gut zu. „Das wissen wir beide. Du. musst. nach. Berlin." Er betonte jedes Wort noch einmal einzeln, als wäre ich irgendwie taub. Oder schwer von Begriff.
Wobei, vielleicht war ich Letzteres ja auch. Normalerweise wäre ich schon längst in Berlin, aber irgendwas hat mich noch hier Zuhause gehalten.
„Aber...", setzte ich an, denn mir kam eine Erkenntnis.
„Was?"
„Ich will das mit Anna nicht versauen", gab ich ehrlich zu. „Du weißt, wie es die letzten Male geendet ist, wenn ich helfen wollte. Ich will ihr den Freiraum geben, den sie braucht."
„Ich glaube, was Anna braucht, bist du. Oder irgendjemand, der für sie da ist. Ich bin zwar absolut nicht eingeweiht, was genau los ist, aber das, was ich in Hamburg gesehen habe, reicht mir." Marco sah mich eindringlich an. „Du kannst ihr nur helfen. Glaub mir."
„Woher willst du das wissen?"
„Vertrau mir einfach. Mein Gefühl hat sich bisher selten geirrt."
„Mhm."
„Wince, schau mich mal an."
Ich drehte mich zur Seite und sah Marco direkt in die Augen.
„Wenn sich Mats noch nicht wieder gemeldet hat, dann ist er wohl noch bei ihr. Also kannst du, als ihr Freund, genauso gut für sie da sein. Ich bin mir ganz sicher, dass deine Familie versteht, warum du nach Berlin musst."
„Es ist aber niemand da."
„Mensch, Junge! Du hast ein Telefon. Schreib ihnen einfach, schick eine Sprachmemo oder leg einen Zettel auf den Küchentisch."
Ich zögerte noch immer ein wenig. Sollte ich wirklich...?

Bin ich für sie blind? Where stories live. Discover now