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Annalena

Zu meiner eigenen Überraschung schmeckte mir der Käse sogar und anders als damals musste ich nicht gleich wieder erbrechen. Hatte Wincent vielleicht Recht? Konnte ich diesen ganzen Scheiß umgehen?
Ein kurzer Hoffnungsschimmer wuchs in mir.
„Weintraube?", fragte Wincent und ich nickte.
Er legte sie mir wieder auf die Hand und ich aß sie auf. Auch dieses Mal passierte nichts.
Wieso war es gerade so einfach zu essen? Zuhause klappte das doch auch nicht.
„So, ich bin dran", sagte Wincent und drehte zwei Karten um.
Ich las sie kurz, damit ich wusste, welche es waren und ließ Wincent sie dann wieder zurück drehen. Als ich dran war, hatte ich sogar meine Lieblingskarte und wusste glücklicherweise, wo die zweite davon lag. Wenn Wincent die bekommen hätte, wäre ich echt traurig.
„Was jetzt?", fragte Wincent mich. „Oder soll ich aussuchen?"
„Mach ruhig", antwortete ich. Vergiften würde er mich schon nicht und so bekam das Spiel nochmal eine neue Komponente.
Wincent legte mir etwas in die Hand. Kurz fühlte ich und erkannte, dass auf jeden Fall so Wrapteig beteiligt war. Doch mit was gefüllt, keine Ahnung. Ich biss einfach ab und stellte fest, dass Wincent meinen Geschmack ziemlich gut getroffen hatte.
Dann war er wieder dran und an seinem Jubel hörte ich, dass er sich endlich mal zwei Karten gemerkt hatte.
„Stopp, ich will aussuchen", sagte ich. Wenn, dann galt das für beide Seiten. Gut, er wusste, was zur Auswahl stand, aber egal.
„Okay", erwiderte Wincent und ich tastete nach den Essensplatten.
Dann suchte ich irgendwas aus und reichte es Wincent. Er nahm es entgegen und dann war kurz Ruhe.
„Oh, Sushi. Danke", sagte Wincent schließlich.
„Es gibt Sushi?", fragte ich.
„Ja."
„Ich liebe das."
„Na dann. Du weißt, was zu tun ist."
Ich konzentrierte mich und drehte zwei Karten um, aber dieses Mal passten sie nicht. Kurz ärgerte ich mich, aber so lief das Spiel halt.
Es ging einige Runden hin und her und wir suchten dem jeweils anderen immer das Essen aus. Irgendwann vergaß ich fast, dass es in unserem Spiel quasi um Abendessen ging. Es machte einfach Spaß, gegen Wincent Memorie zu spielen. Vor allem, weil ich einen ziemlichen Vorsprung hatte, was ihn spürbar wurmte.
Als Wincent allerdings plötzlich mehrere Paare nacheinander fand, musste ich mich echt konzentrieren. Ich gönnte ihm keinen Sieg. Immerhin war es das einzige Spiel, in dem ich irgendeine Chance hatte.
Als ich ein Paar aufdeckte, freute ich mich innerlich ziemlich. So vergaß ich, Wincent meine Hand hinzuhalten. Doch ihn störte das nicht wirklich, denn er fütterte mich einfach.
Irgendwie fand ich das super süß und beschloss, dass er das jetzt immer machen konnte. Obwohl ich nichts dazu sagte, tat er es ganz von alleine und ich bekam ein starkes Kribbeln im Bauch.
Viel zu schnell waren alle Karten aufgedeckt, aber weder Wincent noch mich interessierte das. Er rutschte näher zu mir und wir fütterten uns weiterhin abwechselnd. Ich genoss es und vor allem das Gefühl, das er in mir auslöste. Meine ganzen Probleme waren in diesem Moment vergessen.

Wincent

Mit Begeisterung, aber auch Wehmut sah ich zu, wie die Anzahl der Snacks schrumpfte. Ich war so stolz auf Anna, dass mein Trick funktioniert hatte und sie etwas aß. Ihr selbst schien es auch gut zu tun.
„Anna, letztes Stück", sagte ich und irgendwie war ich traurig, dass wir fertig waren.
Es war so schön gewesen, mit Anna auf spielerische Art und Weise Essen zu teilen. Das hatte ich auch noch nie so gemacht.
„Noch eine Runde?", fragte Anna leise.
„Warte, ich komm gleich wieder. Du kannst schon alles vorbereiten", sagte ich und stand auf.
Mit der Zimmerkarte, meinem Handy und meinem Portemonnaie bewaffnet, verließ ich den Raum und das Hotel. Am Ende der Straße war ein Supermarkt und der hatte auch noch offen.
Schnell kaufte ich eine Packung Weintrauben und so einiges anderes an Snacks ein und lief zum Hotel zurück. Ein wenig außer Atem ging ich die Treppen zu meinem Zimmer nach oben.
„Bin wieder da", verkündete ich.
„Wo warst du?"
„Hab Nachschub besorgt", erklärte ich und zog meine Schuhe aus.
Dann verteilte ich meine Beute auf den Tabletts von vorhin, weil das einfacher war als mit den ganzen Kartons und Tüten.
„So, wir können", sagte ich.
„Du bist verrückt", war Annas einziger Kommentar und sie lächelte mich an. „Dieses Mal fängst du an."
„Okay." Ich löste meinen Blick von Anna und drehte die ersten beiden Karten um.
Ich spielte nicht absichtlich schlecht, aber gegen Anna hatte ich absolut keine Chance. Vielleicht sollte ich häufiger Memorie spielen. Gab vermutlich ganz viele Fragen bei meinem Team, aber ich konnte ja nicht zulassen, dass sie mich immer abzog.
„Und wieder hast du gewonnen", gab ich zu, als endlich alle Karten aufgedeckt waren.
„Zu noch einer Runde bekomme ich dich vermutlich nicht überredet, oder?" Anna grinste.
„Nicht mehr heute. Zwei Mal gegen dich verlieren reicht vollkommen."
„Na gut." Sie räumte die Karten zusammen.
„Wo hast du das eigentlich her?", fragte ich.
„Spezialanfertigung von meiner besten Freundin", erklärte sie. „War mein Geburtstagsgeschenk dieses Jahr."
„Echt cool."
„Ja. Wobei sie durchaus auch andere Motive hätte nehmen können."
„Wieso? Die sind doch super", widersprach ich.
„Mag sein. Es sind auch die einzigen Bilder von denen Lara mehr als genug hat, um mir immer wieder neue Karten zu schenken."
Ich musste grinsen. „Ist sie so ein großer Fan?"
„Oh ja. Definitiv. Was meinst du denn, warum ich auf so vielen Konzerten von dir war?"
„Etwa nicht wegen der Musik?"
„Doch. Aber ohne Laras Generve, wäre ich nicht so häufig da gewesen. So lange Zug fahren hätte ich mir dafür ganz sicher nicht angetan."
„Okay, ist ein Argument. Das lasse ich gelten."
Ich konnte es wirklich verstehen. Und sie hatte ja von den Konzerten wirklich wenig. Die Musik konnte sie auch über Spotify hören, auch wenn es live natürlich nochmal um einiges geiler war.
„Haben wir noch Chips?", wechselte Anna das Thema und ich musste schmunzeln.
„Ja. Warte." Ich reichte ihr die Platte, auf die ich die Chips gekippt hatte. „Nur für dich."
„Danke." Sie nahm sich welche und ich schnappte mir eine der anderen Platten.
Reste aufessen war doch der schönste Teil. Vor allem, wenn man so wunderschöne Gesellschaft hatte. Ich vergaß fast, dass Anna nichts von dem sehen konnte, was ich sah.
„Willst du noch die letzte Weintraube?", fragte ich Anna, als jegliche Snacks vertilgt worden waren. Gut, ich hatte vermutlich mehr gegessen als Anna, aber dass sie überhaupt etwas zu sich genommen hatte, reichte mir.
„Wenn ich darf, gerne."
„Natürlich darfst du. Sonst würde ich nicht fragen." Ich nahm die Traube vom Tablett und fütterte Anna damit.
Ich beobachtete ganz genau, wie sie die Weintraube aß. Diese Frau faszinierte mich einfach komplett. So konnte ich nicht widerstehen, als Anna aufgegessen hatte.
„Nicht erschrecken", flüsterte ich und legte meine Hände um ihr Gesicht.
Als Anna nicht protestierte, überwand ich den sowieso nur kleinen Abstand zwischen uns und legte ganz sanft meine Lippen auf ihre.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt