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Wincent

Dass Mats zurück kam, bemerkte ich erst, als Fritz am Sofa hochsprang. Offenbar waren wir eingeschlafen, denn Anna lag noch immer auf meiner Brust und ihre Atmung war ziemlich ruhig und regelmäßig. Vermutlich hatte sie in den vergangenen Tagen nicht viel geschlafen, deshalb versuchte ich möglichst leise zu sein.
„Hey, ihr seid ja zurück", sagte ich und kraulte Fritz über den Kopf.
„Jap", antwortete Mats, der im Türrahmen stand. „Ihr seht aber nicht so aus, als hättet ihr miteinander geredet."
„Ne. Aber ich glaube, dass Anna einfach noch Zeit braucht", erwiderte ich. „Ich hab sie kurz drauf angesprochen und die Reaktion war nicht gut."
„Okay." Mats schwieg kurz. „Braucht ihr etwas?"
„Gerade nicht. Danke für alles."
„Kein Ding. Dann sag ich mal ‚Gute Nacht' und wir schreiben morgen, okay?"
„Ja. Ich nehm dich auf jeden Fall mit zum nächsten Konzert. Ach und nimm dir Essen mit. Wir bestellen im Zweifelsfall einfach was, aber ich glaube, viel brauchen wir nicht."
„Alles klar. Passt auf euch auf, ja?"
„Machen wir. Wir quatschen morgen, okay?"
„Klar." Er wandte sich zum Gehen, aber drehte sich wieder zu mir um. „Ach und Wince?"
„Ja?"
„Ich glaube, die beste Lösung wäre wirklich eine Therapie."
„Ich weiß." Mir behagte das gar nicht, denn ich wusste, wie anstrengend und belastend das sein konnte.
Andererseits hatte es mir wirklich geholfen und ich wusste, dass es Anna danach sehr wahrscheinlich besser gehen würde. Das Timing war nur sehr blöd, weil ich ja absehbar wieder sehr viel unterwegs war. Würde es jetzt die letzten Konzerte der Tour betreffen, dann hätte ich einen anderen Blick drauf, aber ich wusste, dass noch einiges kam. Ich wollte Anna nicht alleine lassen und schon gar nicht, wenn sie wirklich eine Therapie begann.
Vorsichtig hob ich Anna hoch und bettete sie wieder auf die Couch. Ich deckte sie zu und nach einem letzten Blick auf sie, ging ich schnell ins Bad. Fritz schien anschließend auf mich zu warten, denn als ich wieder kam, saß er vor der Tür.
„Na? Hast du Hunger?", fragte ich.
Fritz schleckte sich einmal über die Schnauze und ich lächelte.
„Dann komm."
Ich ging in die Küche und natürlich folgte er mir direkt. Ich meine, es ging um Essen. Wer konnte denn da widerstehen? Fritz und ich definitiv nicht. Wobei ich heute gar keinen Hunger hatte. Die negativen Gedanken und vor allem die Sorge um Anna schlugen ganz schön auf den Magen.
Mir fiel ein, dass ich ja noch eine Frage klären wollte. Also stellte ich Fritz sein Futter hin und schlich ins Wohnzimmer, um mein Handy zu holen. Ich schloss Spotify und öffnete den Chat mir Marco.
»Ich hab da mal wieder eine Frage...«
Ein wenig dumm fühlte ich mich schon, wieder meinen besten Freund zu fragen. Allerdings hatte ich einfach keine Ahnung, an wen ich mich sonst wenden sollte.
Zwei Minuten später kam schon die Antwort.
»Was los?«
»Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Kann ich Anna überhaupt helfen?«
Fritz lenkte kurz meine Aufmerksamkeit auf sich und da konnte ich einfach nicht widerstehen. Der Kerl war einfach so süß. Dabei kam mir auch direkt eine Idee für Annas Weihnachtsgeschenk. Ich nahm mein Handy wieder zur Hand, um zu recherchieren, aber da sah ich eine neue Nachricht von Marco.
»Wince, mach dich bitte nicht verrückt. Denk nicht so viel nach, sondern handel nach Gefühl. Anna wird dir schon sagen, wenn sie etwas Bestimmtes braucht oder eben etwas nicht will. Zweifel nicht immer so an dir, du machst das schon. Und wenn etwas ist, meld dich einfach.«

Annalena
Ich wachte auf und stellte sofort fest, dass die Musik fehlte. Vorhin war sie ganz sicher noch an. Hatte ich das alles nur geträumt? War ich eigentlich noch immer alleine? Wünschte ich mir Wincent so sehr zu mir, dass ich schon Halluzinationen bekam? Und wo steckte Fritz?
Ich hoffte, dass das alles nur ein böser Traum war und wenn ich dann richtig aufwachte, war Wincent wieder da. Doch als ich mich kurz zwickte, merkte ich, dass das hier real war. Ich wollte und konnte nicht alleine sein. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, beschleunigte sich mein Puls und ich bekam kaum noch Luft. Ich wollte das nicht. Tränen stiegen in meine Augen und ich versuchte erst gar nicht, sie zu unterdrücken.
„Hey, du bist ja wach", hörte ich da Wincents Stimme. „Was ist los?"
Sofort war er bei mir und zog mich in seine Arme. Ich klammerte mich an ihm fest.
„Du musst langsamer atmen. Ganz ruhig. Ein und aus. Komm schon, Anna. Du kannst das. Wir machen das zusammen, okay?"
Er ließ mich los, aber hielt noch immer meine Hände fest. Ich spürte seinen Blick auf mir und versuchte mich ganz auf seine Stimme zu konzentrieren.
„Anna. Ganz langsam. Mit mir. Einatmen... und ausatmen. Sehr gut. Noch einmal."
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis ich wieder normal Luft bekam. Ohne Wincent waren die Attacken deutlich schlimmer, aber dennoch war ich komplett fertig.
„Du hast das gut gemacht", sagte Wincent und nahm mich wieder in den Arm.
Ich konnte noch nicht wieder sprechen, aber das schien nicht so wichtig zu sein.
„Geht's wieder?", wollte er wissen und ich nickte.
„Was war denn? Kannst du mir das sagen?" Seine Stimme war sanft und einfühlsam.
Ich schluckte kurz, aber dann nahm ich meinen ganzen restlichen Mut zusammen.
„Ich bin hier, also ist alles gut, okay? Dir kann nichts passieren", versprach mir Wincent.
„Ich dachte, du wärst nicht mehr da", gab ich leise zu. „Und dann kam die Panik."
„Ach, Maus. Ich bin hier und ich gehe auch nicht."
Ich wollte ihm das glauben, aber es ging nicht zu 100 Prozent. „Aber...", setzte ich an.
„Anna", unterbrach er mich direkt. „Ich lasse dich nicht alleine."
„Du hast einen Job", erinnerte ich ihn schweren Herzens.
„Und der ist nicht annähernd so wichtig wie du. Glaub mir das bitte."
„Ich kann nicht zulassen, dass du meinetwegen die Konzerte absagst. Da sind tausende Fans, die sich auf dich und den Abend freuen."
„Ich will nicht mit dir darüber diskutieren. Meine Entscheidung steht fest. Ich mache nicht zwei Mal den gleichen Fehler."
Ich gab nach, denn einerseits hatte ich nicht die Kraft, mir noch mehr Argumente zu überlegen und andererseits würde er eh seinen Kopf durchsetzen. Wincent war einfach ein Dickschädel und ihn von etwas abbringen war nicht gerade leicht.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt